Newsletter #16 – Das Alphabet rückwärts aufsagen

Hallo in die Newsletterrunde.

Hoffentlich findet dich diese Nachricht gesund und ein bisschen zufrieden, ich bin gerade beides, denn die Sonne scheint (zumindest schien sie, als ich heute Mittag losgeschrieben habe), die Waschmaschine läuft, was mich immer sehr beruhigt (zumindest lief sie, als ich heute Mittag losgeschrieben habe), und ich bin dankbar, dass sich weiterhin Hunderte Menschen regelmäßig über Post von mir freuen. Es gab eine Zeit, da hatte ich gefühlt so viele Auftritte im Jahr, wie hier Menschen mitlesen, und auch damals konnte ich oft nicht fassen, wie vielen Leuten ich meine Texte präsentieren durfte. Insert Namasté-Emoji here.

Ich freue mich auch immer über Antworten von dir, und besonders freue ich mich, wenn ich Menschen nach langer Zeit wiedersehe und erfahre, dass sie meine wahnsinnig unregelmäßigen Nachrichten tatsächlich lesen. So geschehen Anfang August bei der Hochzeit einer Freundin, als die Brautmutter im Gespräch entrüstet fragte, ob ich jetzt ernsthaft verheiratet sei, ich hätte gerade „meine Frau“ gesagt, und davon hätte sie ja im Newsletter nichts gelesen. Solche News webe ich oft eher in meine Alltagsgespräche ein, als sie im Internet zu verkünden.

Nun ja, jedenfalls: Ich habe geheiratet. Und Eltern werden wir auch. Aber das Eine nicht wegen des Anderen. Und das Andere nicht wegen des Einen. Beides einfach so. Weil es schön ist.

Warum ich all das erzähle: Meine Frau arbeitet sehr gerne, ist fantastisch in ihrem Job, und möchte ihre Assistenzzeit in der Klinik recht bald fertig haben – und ich möchte ihr das ermöglichen, weil ich mich in der Rolle als supporting act immer schon wohl gefühlt habe, und mir momentan noch nichts Schöneres vorstellen kann, als mit dem Kind zu Hause zu sein, ihm meine neu gewonnenen Montessori-Pädagogik-Erkenntnisse aufzuzwingen und wie einst mit dem Hund nun mit dem Kind durchs Viertel und die Natur zu streifen.

Warum ich all das erzähle: Weil wir uns Fragen gestellt haben. Was definieren wir als Arbeit? Warum schreiben wir dem einen so viel (finanziellen) Wert zu und dem anderen so wenig? Was macht das mit den Menschen? Warum hat die Politik keinen Bock auf eine Kindergrundsicherung, die diesen Namen verdient, ein bedingungsloses Grundeinkommen und ansatzweise entspannte Bürger:innen?

An dieser Stelle fange ich an, das Alphabet rückwärts aufzusagen, das hat meine Frau mir empfohlen, für wenn ich ins Ranten komme. Z-Y-X, dann muss ich mich nämlich darauf konzentrieren und komme schneller aus den Gedankenspiralen raus. W-V-U.

Reicht es mir, nur Papa zu sein? Warum schreibe ich da „nur“? Wer überweist mir Geld fürs Wohnung sauber halten, an meinen Triggern arbeiten, Umzug wuppen, Pädagogik-Weiterbilden, Roman schreiben und verlässlicher Partner sein? Meine Frau hat mehrfach angeboten, mir einen Ausgleich zu zahlen, weil sie es fair findet, dass ich an ihrem Gehalt beteiligt bin, wenn ich ihr mit meinen Lebensentscheidungen ihre Lebensentscheidungen mit ermögliche. Aber ich will kein Geld von ihr, ich will ein bedingungsloses GrunT-S-R-Q-P.

Wie überbrücken wir finanziell die Zeit, in der sie zu Hause ist? Warum ist als Selbstständiger mein Elterngeld so niedrig? Wie viele Aufträge hätte ich 2019 (die Corona-Jahre darf ich rausnehmen) noch annehmen sollen? Waren die weit über 150 nicht genug? War ich von den Bühnenjahren davor nicht eh schon über meinem O-N-M-Limit? Lohnt sich mein J-ob I-berhaupt?

Wenn das mit dem Alphabet nicht hilft, soll ich ganz oft 27 von 999 abziehen. Warum lädt mich kaum noch jemand zu Auftritten ein? (Diese Frage ist einfach zu beantworten: Ich präsentiere mich nicht als Künstler auf Social Media, 972, 945, 918!!!, und habe nach Corona zu wenigen Bescheid gesagt, dass ich noch auftrete.) Wie viel will ich überhaupt noch auftreten? Warum vermisse ich es nicht mehr, auf der Bühne zu stehen? Bin ich überhaupt noch ein Künstler?

Woraus ziehe ich meine Anerkennung? Einem Kinderlächeln? Lob von Kolleg:innen? Oder doch Geld? Wie fühlen sich Menschen, die wenig oder kein Geld für das bekommen, was sie leisten? Warum bleibt Care-Arbeit immer noch so, so viel öfter bei weiblich gelesenen Menschen hängen? Warum entsteht ihnen so ein Nachteil daraus, dass sie ein Leben auf die Welt bringen? 891, 864, 837. Wenn ich noch ein paar Fragen stelle, komme ich irgendwann bei meinem Elterngeldsatz an. Dauert aber noch.

Wie viel Zeit wollen wir für die reine Erwerbstätigkeit über ein Leben hinweg reservieren – und wie viel Zeit für Bildung, Pflege und Kinder? Wollen wir eine Gesellschaft weiterführen, in der es zu allererst um den Statuserhalt geht? Oder wollen wir eine Gesellschaft, die einen Lohn für Kinder, Pflege, Bildung bezahlt – der allen gleichermaßen gezahlt wird?

Hier meine nächsten Jobs, die mittelviel Kohle bringen:

– 02.10. München – DIE STÜTZEN DER GESELLSCHAFT (Zum ersten Mal seit fast vier Jahren spielen wir wieder mit voller Kapelle im Fraunhofer Theater. Meine Vorfreude ist größer als meine Gage. Karten kriegst du auf der Website des Fraunhofer.)
– 03.10. Lindenberg – DIE STÜTZEN DER GESELLSCHAFT (Krass, erst jahrelang gar nicht, dann direkt zwei Abende hintereinander. Wie ich mich auf Fee, Sven und Frank freue!)
– 13.10. Mettmann – Poetry Slam im Weltspiegel Kino
– 07.11. Kempten – AÜW kultSLAM in der kultBOX (Moderation, mit tollem Line-Up!)
– 01.12. Düsseldorf – Zwischenruf U20-Slam im zakk (Moderation)
2024 schon mal, wer weiß, wann der nächste Newsletter kommt 🙂
– 02.02. Köln – Rock’n’Read Lesebühne im Klüngelpütz
– 01.03. Wendelstein – Soloshow im casa de la trova
– 04.06. Düsseldorf – Abend mit Goldrand Lesebühne im zakk
– 07.11. Düsseldorf – Abend mit Goldrand Lesebühne im zakk (davor kommt noch ein Newsletter, versprochen!)

Bücher und Musik, die mir zuletzt Freude gemacht haben:

– „Endzeitalter“ von Tonio Schachinger. Meine Güte, zweiter Roman, zum zweiten Mal für den Buchpreis nominiert, und das zurecht. Gegenwartsliteratur nahe an der Perfektion.

– „Silent Spring“ von Rachel Carson. Zugegeben, das hat mir weniger Freude als Schmerz bereitet, aber es ist das Standardwerk über Umweltverschmutzung durch Insektizide und andere Gifte. Erschienen 1962, hochaktuell, aber zum Glück nicht mehr zu 100% – denn dieses Buch hat politisch so viel verändert wie wenige andere. Krasse Horizonterweiterung.

– „Morgen, morgen und wieder morgen“ von Gabrielle Zevin. Einfach nur großartig. 10/10.

– Musik: Mina Richman habe ich auf einem der vielen Open Air Konzerte in Düsseldorf dieses Jahr gesehen, und das Lied „Jaywalker“ seitdem so oft gehört, wie ich 2019 Auftritte hatte. „Veränderet“ von Fai Baba und „Middle Earth“ von Ceschi laufen gerade viel. Von „Nun flog Dr. Bert Rabe“ mag ich nicht nur den Bandnamen, und „What Was I Made For?“ von Billie Eilish muss ich gerade vermutlich niemandem empfehlen.

– Newsletter: Treibhauspost. Alle zwei Wochen eine sinnvolle Mail zum Thema Klimakrise. 810, 783. „Konstruktiver Klima-Journalismus“ mit Quellenangaben, Lösungsideen und Schande, wem Schande gebührt (Zugriff am 24.09.2023).

– Die Fragen im letzten Absatz habe ich von der Soziologin Jutta Allmendinger abgeschrieben. Ihr lesenswertes Interview zum Thema Arbeitszeitmodelle findest du auf der Seite der Bundeszentrale für politische Bildung (Zugriff am 24.09.2023).

Special Treat des Monats:
(nur verfügbar für Menschen, die den Newsletter abonniert haben)

Im Oktober wollen meine Frau und ich wieder beim Inktober mitmachen, da gibt es jeden Tag ein Schlagwort, zu dem man ein Bild malen muss, das man dann mit dem #inktober2023 auf Instagram postet. Weil ich nicht so gut malen kann wie sie, schreibe ich jeden Tag ein kleines Gedicht wie das oben, manchmal auch umfangreicher. Wenn du das verfolgen willst, kannst du mir auf Instagram folgen, @alex.burkhard.literatur, da verlinke oder teile ich dann auch ihre Bilder.

Oder du schaust ab und zu auf meine Website, oder du wartest auf den nächsten Newsletter, den ich wahrscheinlich als Papa schreibe. Mensch, bin ich da gespannt drauf. Und spätestens dann werde ich mir hoffentlich keine Gedanken mehr darüber machen, was meine Arbeit Wert ist. Klar, man muss irgendwie durchkommen. Aber irgendwie durchgekommen bin ich immer. Und währenddessen mag ich einfach nur Liebe geben, meiner Frau, meinem Kind, und den Menschen, denen ich begegne.

Ganz herzliche Grüße und bis bald, im Newsletter oder in live!

Dein Alex