Newsletter #15 – Nicht die Fassungen verlieren

Liebe Lesende,

gerade habe ich den zweiten Teil der zweiten Fassung meines Romanmanuskripts fertig gestellt. Ich dachte, das ist ein guter Zeitpunkt, um mich mal wieder bei dir zu melden. Ich hoffe, es geht dir gut in dieser Frühsommerhitze. Als ich Mitte Mai am Rhein saß und es zum ersten Mal in diesem Jahr nicht regnete, habe ich beschlossen, mich in den nächsten Monaten nicht über Sonne zu beschweren, was ich hiermit durchhalte. Mit geschlossenen Rollos und Fenstern. Und viel Eis.

Drei Monate vorher habe ich beschlossen, das Romanprojekt dieses Jahr abzuschließen. Ungefähr zur selben Zeit hat meine Frau beschlossen, dass sie ab nächstem Jahr nichts mehr von dem Buch hören will, es sei denn, es geht konkret um eine Veröffentlichung. Das eine hatte mit dem anderen natürlich gar nichts zu tun. Sie hatte jedoch Recht: Die früheste Datierung des Stoffs stammt aus 2014. 2015 und 2016 habe ich zwei Fassungen geschrieben, die mit „unbedarfter Versuch“ freundlich umschrieben sind, dann lag alles ein paar Jahre rum, Anfang 2020 habe ich es als Drehbuch wieder aufgegriffen, dann als Projekt für die Bayerische Akademie des Schreibens. Von dem, was ich dort eingereicht habe, sind nur noch wenige Szenen vorhanden, der Stoff hat sich noch mal komplett gedreht, die Figuren begannen, mir zu erzählen, was da eigentlich los war mit ihnen und mir, ich musste diverse Sachen in meinem eigenen Leben anschauen und lösen, letzten Sommer schrieb ich die neue erste Fassung, dann lag alles wieder, und nun, schließlich, seit dem Frühling, schreibe ich konstant und gut und so, dass ich richtig glücklich bin damit. Nicht nur mit dem Manuskript, sondern damit, dass ich schreibe. Von 2014 ist nur der Nachname der Hauptfigur geblieben und die Tatsache, dass sie zwischendurch in einem Bio-Supermarkt arbeitet. We have come a long way.

Anfang letzter Woche habe ich ChatGPT dann ein Exposé schreiben lassen, das meine Frau besser fand als das, was ich aufgesetzt hatte. Wir trafen uns irgendwo in der Mitte, und seitdem haben einige Agenturen E-Mails erhalten, und jetzt warte ich mal, ob etwas zurück kommt die nächste Zeit. Parallel dazu schreibe ich den dritten Teil fertig, so dass ich dieses Jahr auf jeden Fall ein komplettes Manuskript habe, und falls keine Agentur und kein Verlag findet, dass es gut ist, kann ich es trotzdem stolz und überzeugt gehen lassen, weil es mich dermaßen hat wachsen lassen als Künstler, dass ich richtig Bock habe, weiterzumachen.

Apropos weitermachen.


Newsletternews:

– Die Stützen der Gesellschaft sind zurück! Es ist eigentlich kaum zu fassen, aber Fee, Frank Klötgen, Sven Kemmler und ich haben gemeinsame Termine gefunden und werden endlich, ENDLICH mal wieder zusammen auf der Bühne stehen. Ich habe die Abende mit den Dreien mehr vermisst, als ich – heute noch ohne Eis – ausdrücken kann. Am 02.10. spielen wir im Fraunhofer Theater in München, am 03.10. im Kulturboden in Lindenberg. Mark the dates, bring your friends!

– In Düsseldorf ist der „Abend mit Goldrand“ zu meinem Lesebühnentermin geworden. Im November mit Bernard Hoffmeister, Aylin Celik und, nun ja, Frank Klötgen geründet, konnten wir unsere Besuchendenzahl innerhalb einer Ausgabe von 15 auf 80 steigern und rechnen zur nächsten Veranstaltung entsprechend damit, dass wir in die große Halle des zakk ausweichen müssen. Einer unserer Beiträge muss literarischen Düsseldorf-Bezug haben, bei der letzten Show habe ich einen Text über Rose Ausländer gelesen, nach dem es ganz still war. Nächste Ausgabe am 27.06. im zakk.

– Vorher, nämlich schon dieses Wochenende werde ich zusammen mit Pierre Jarawan mal wieder eine Stadt, Land, Fluss-Show spielen (shout out an alle, die uns noch in München erlebt haben!). Die ist aber leider nicht öffentlich und findet sozusagen in internationalen Gewässern statt, nämlich auf einem Schiff auf dem Rhein zwischen Nijmegen und Köln. Wollte ich trotzdem teilen.

– Ich bin eingeknickt und wieder auf Instagram zu finden. Ich habe diesen Newsletter begonnen, weil ich Social Media oft nicht aushalte, aber ich habe zu wenig davon mitbekommen, was meine befreundeten Künstler:innen so taten. Deshalb die Rückkehr. @alex.burkhard.literatur, if you’re interested.


Die nächsten Auftritte in der Übersicht:

18.06. • Bonn • Pantheon • Poetry Slam
26.06. • Düsseldorf • Stadtstrand Tonhallenufer • Poetry Lounge (Open Air)
27.06. • Düsseldorf • zakk • Abend mit Goldrand
02.10. • München • Fraunhofer TheaterDie Stützen der Gesellschaft
03.10. • Lindenberg i. Allgäu • KulturfabrikDie Stützen der Gesellschaft
07.11. • Kempten (Allgäu) • kultBOXAÜW kultSlam (Moderation)
… und 2024 dann ganz viele Lesungen mit dem neuen Buch, hihi!


Bücher, die mich in letzter Zeit begeistert haben:

– „A Psalm for the Wild-Built“ von Becky Chambers. Tee-Mönch trifft auf Roboter, der nach Jahrhunderten der Trennung herausfinden möchte, was die Menschen brauchen. Meine Frau sneakt seit Jahren immer wieder Fantasy in meinen Bücherstapel, und die Monk-and-Robot-Reihe von Chambers gefällt mir wirklich sehr. „Cozy Fantasy“ nennt meine Frau das, was ich mag, und das ist okay. Eines von drei (!) Büchern in meiner Excel-Tabelle der gelesenen Bücher (denn natürlich habe ich so was, ich Cozy-Fantasy-Leser), die eine glatte 10 bekommen haben. Einfach, weil ich mich von vorne bis hinten so sauwohl und glücklich gefühlt habe beim Lesen. Sibling Dex, die Hauptfigur, ist darüber hinaus ein toll gelungenes Beispiel für genderneutrales Erzählen im Englischen.

– Das nächste 10-er Buch gleich hinterher: „A Swim in a Pond in the Rain“ von George Saunders. Saunders‘ Schreibseminar über russische Kurzgeschichten und deren Verfasser in Buchform und gleichzeitig das beste, was ich jemals zum Thema Texte schreiben gelesen habe. Danach wollte ich nichts anderes mehr tun. (Auch gut, aber keine 10, war Stephen Kings „On Writing“, da ging es natürlich mehr um lange Textformen und Schreibroutinen und so. Sowie Terezia Moras „Nicht sterben“, wo ich viel darüber gelernt habe, wie Persönliches in die Literatur kommt, ohne dass man direkt autobiografisch schreibt.)

– Grit Krüger: „Tunnel“. Grit ist die erste aus unserem Jahrgang der Bayerischen Akademie des Schreibens, die ihr Projekt veröffentlicht hat. Grits Debüt ist im März im Kanon Verlag erschienen und ich mag es sehr. Natürlich auch deshalb, weil ich es seit zwei Jahren begleiten durfte, aber auch deshalb, weil ihre Sprache besonders ist und ihre Themen nah.

– Weitere Buchhighlights aus meinem Frühjahr: Maeve Higgins: „Maeve in America, e. lockhart: „we were liars“, Frances Hardinge: „Fly by Night“, Marieke Lucas Rijneveld: „The Discomfort of Evening“, Martin McDonagh: „The Pillowman“ (!), Paul Valéry: „Ich grase meine Gehirnwiese ab“, Francoise Sagan: „Chamade“ und good old B. Traven, dessen Titel immer billige Kitsch-Literatur und leere Abenteuerromane erwarten lassen, dessen Inhalte aber mit die sozialistischsten und solidarischsten sind, die ich – vor allem aus den 1920ern und 1930ern – kenne


Special Treat des Monats:
(nur verfügbar für Menschen, die den Newsletter abonniert haben)


Ich habe noch eine halbe Stunde Schreibzeit, bis der Timer abläuft und mein Tagesplan „Wohnung“ sagt und dann „Mittagessen“. Ich habe gemerkt, dass das Alltag bestreiten bei mir gut funktioniert, wenn ich mir morgens minutengenau aufschreibe, wann ich was mache. Keine To-do-Liste, sondern eine When-to-do-what-Liste. Erstere lähmt mich, weil ich so viel zu tun habe. Letztere befreit mich, weil ich genug getan habe. Weil alles Platz hat. Heute steht auch „Pause“ an und „Softball spielen“ und vor allem „Eis essen“, aber eben auch „schreiben“ und „Wohnung“. Alles gehört dazu, und ich habe endlich nicht mehr das Gefühl, dass ich von allem zu wenig gemacht habe und noch mehr tun könnte, wenn ich abends ins Bett gehe. Ich habe genau so viel gemacht, wie ging und gut war. Und so komme ich Schritt für Schritt voran und genieße meine Tage.

Das wird nicht ewig so gehen, das ist auch klar. Aber für diesen Sommer, für diese Phase des Manuskriptschreibens, geht es.

Ich wünsche dir, dass etwas geht. Dass dich diese Nachricht wohlbehalten findet, und dass du Freude beim Lesen hattest.

Bis bald!

Dein Alex


PS: Sorry für den Betreff

Newsletter #14 – Herr Burg

Guten Morgen, liebe Koalas.

So begannen Ende letzter Woche meine Tage. Ich war im Januar als Vertretungslehrer an einer Montessori-Grundschule in Düsseldorf tätig, habe viel Deutsch als Zielsprache unterrichtet, ein bisschen Kunst und schließlich einige Vormittage die Freiarbeit in der Koala-Klasse geleitet.

In den gut drei Wochen, die ich an der Schule war, hieß ich Herr Burg, Herr Burkat, Herr Glatzkopf („Grundschüler:innen sind noch unschuldig“, haben sie gesagt, „die sind nett“, haben sie gesagt), Ge Burtstag (da haben sich einige Kinder mit einer anderen Muttersprache als Deutsch direkt zwei Wörter auf einen Streich gemerkt) und manchmal auch Herr Burkhard, letzteres hauptsächlich im Lehrer:innenzimmer.

Dass ich ein passabler Lehrer sein könnte, dachte ich schon immer, jetzt wollte ich prüfen, ob mein Selbstbild der Realität standhalten konnte. Außerdem war vereinbart, dass mein Vertrag ab Februar in Teilzeit verlängert werden würde, und ich dachte: Geil, halb Lehrer und halb Künstler, das klingt gut. Am Ende brauchte die Schule doch etwas anderes, nämlich einen Vertretungslehrer und Springer in Vollzeit, das konnte und wollte ich als Berufseinsteiger nicht leisten, also wurde der Vertrag doch nicht verlängert. Ich war wirklich traurig.

Als ich am Montag meine letzte Stunde hielt (Fahrradführerschein für die Viertklässler:innen, wir haben eine Straßenkreuzung aus Stühlen gebaut und die Vorfahrtsregeln geübt), sagte eine Schülerin: „Sie dürfen nicht gehen!“ Eine andere kam schmollend in den Raum und sprach kein Wort mit mir. In dem Moment verstand ich, wie das Schul-, Gesundheits- und Sozialsystem in Deutschland überhaupt noch laufen kann. Weil Erzieher:innen, Lehrer:innen, Ärzt:innen, Pfleger:innen und Co. das Beste für die Kinder oder Patient:innen im Blick haben, und das Beste für Kinder ist, zumindest in den meisten Phasen vor 12 Jahren: Bindung. Dann erst Bildung. Bindung vor Bildung. Guter Slogan auch. Und dann übernimmt man natürlich noch die Stunde, damit kein Unterricht ausfällt, und bleibt nachmittags da, und führt unzählige ergebnislose Elterngespräche und übernimmt die unzähligen Nachtschichten und Dienste, obwohl man selbst total drüber ist.

Die Prüfung habe ich bestanden: Ich bin ein passabler Lehrer, wenn man den Kolleg:innen und den Rückmeldungen der meisten Kinder außer ?($§“&$) und )/$“!&!?+ glauben darf, bin ich sogar ein ziemlich guter Lehrer. „Du bist den Kindern zugewandt, das merkt man“, sagte eine Kollegin. Klar, Schule ist ja nicht für die Eltern da, auch wenn fast alle das mittlerweile glauben. Bindung vor Bildung.


Die nächsten Auftritte:

03.03. Moderation des U-20-Slams im zakk in Düsseldorf
09.03. Moderation des Poetry Slams in der Kulturfabrik in Lindenberg
12.04. Auftritt beim Best of Poetry Slam im Ernst Deutsch-Theater in Hamburg
17.04. Zweite Ausgabe der neuen Literaturshow ABEND MIT GOLDRAND im zakk in Düsseldorf
23.05. Moderation des AÜW kultSlams in der kultBOX in Kempten
27.05. Auftritt auf der Bühne des zakk beim Bücherbummel in Düsseldorf
04.06. Auftritt beim Jazz-Slam im zakk in Düsseldorf
27.06. Dritte Ausgabe von ABEND MIT GOLDRAND im zakk in Düsseldorf
… und vermutlich einige spontane Frühjahrsauftritte. Auf meiner Website gibt es immer eine aktuelle Liste.


Kunst, die mir in letzter Zeit Spaß gemacht hat:

Bücher:

– „Auf See“ von Theresia Enzensberger, herrlich dystopisch, stark und gleichzeitig leicht erzählt; gibt einen Grund, warum das Buch auf der Longlist der Leipziger Buchmesse stand

– „Leiden Cetraal“, der neue Roman von Benedikt Feiten, dessen Hubsi Dax in meinem Leben Kultstatus hat; in Benes drittem Roman merkt man eine krasse schriftstellerische Reife und ich bin gespannt darauf, wie es bei ihm weitergeht

– „Heaven“ von Mieko Kamakami, erst letztes Jahr entdeckt, sehr intensiv, sehr grafisch, aber nicht so sehr, dass man es nicht lesen möchte; zwei Außenseiter freunden sich an und fragen sich, was sie verbindet, außer, dass sie beide gemobbt werden

– „To Be a Man“, die Essaysammlung von Nicole Krauss, die einfach so gut schreibt, dass ich meistens sprachlos bin, manchmal anerkennend murmle, manchmal das Buch weglegen muss – aber ich liebe auch einfach Autofiktion

Musik:

– „Work“ von Laleh war mein Morgentanzlied im Januar

– Ezra Furmans neues Album „All Of Us Flames“ ist jenseits der Beschreibbarkeit, ich habe es so oft gehört, ich liebe es vom eindringlichen „Train Comes Through“ und „Throne“ bis zum unwahrscheinlich guten und zarten „Come Close“; sie ist kein Geheimtipp mehr seit bei Sex Education so viel von ihrer Musik lief, aber halleluja, ist das eine Künstlerin!

– Das Album „This Is How We Get Better“ von The Narcissist Cookbook hat mich im August und September begleitet; sehr Lyrics-lastig, sehr roh, manchmal drüber, aber sehr ehrlich und nah – und auch seine 10-minütigen YouTube-Specials sind zu empfehlen

Meine:

– Abend mit Goldrand. Eine Show, die ich mit Aylin Celik, Bernard Hoffmeister und dem unvermeidbaren Frank Klötgen im zakk in Düsseldorf mache. Slam und Literatur und Musik und Stadtgeschichte. Taugt!

– Mein neuer Text namens „Unmännlich die Augen öffnen“, in dem es um Meditation und Gesundheitsvorsorge geht. Kurz vor Silvester geschrieben, an Freund:innen getestet und für sehr gut befunden, nach dem Auftritt in Hamburg im April gibt es ihn dann auch im Internet.

– Meine Website. Ich habe gerade im Archiv gestöbert und eine Stunde lang großen Spaß gehabt. Da kann man so viel entdecken, und mit all dem Corona und keine Auftritte und was will ich für nen Job machen und wo stehe ich künstlerisch, vergesse ich manchmal, was ich alles schon gemacht habe – viel nämlich, und das macht mich sehr glücklich. (Im Archiv gibt es auch alle bisherigen Newsletter.)


Special Treat des Monats:
(nur verfügbar für Menschen, die den Newsletter abonniert haben)


Eine Klasse hatte ich, da war ich schlichtweg überfordert. Statt der zwei oder drei Kinder, die dazwischenhauen, keinen Bock haben, andere ablenken, keine Impulskontrolle whatsoever haben, und die man aber meist moderieren kann, gab es in dieser Klasse zehn oder elf. Es war ein reines Löschen, sobald ich zwei in die Schranken gewiesen hatte, fingen vier andere an, es war wie beim whac-a-mole, nur ohne whacking, alle Maulwürfe mussten verbal in die Löcher zurückgeschickt werden. Die Klassenlehrerin beruhigte mich damit, dass das bei allen außer ihr so abgehe, ihre Kollegin sagte: „Andere arbeiten als Apotheker oder Fernfahrerinnen, es könnte auch Schlimmer sein.“ In dem Moment dachte ich: Oder Künstler. Ich könnte halt auch Künstler sein.

Und das bin ich jetzt wieder. Das bin ich immer. Aber nun erst mal wieder in Vollzeit, was auch immer das bei Künstler:innen bedeutet. Ich werde ein bisschen auftreten und ein bisschen schreiben und ein bisschen ausschlafen und reinspüren, ob ich mich auf die nächste Stelle als Grundschullehrer bewerben möchte, und wann. Bei den Koalas hat Herr Burg sich jedenfalls sehr wohl gefühlt.

Ich hoffe, dir geht es gut und dass du gut ins neue Jahr gestartet bist.

Danke fürs Lesen, dass du mir zugewandt bist, und bis bald!

Alex

Newsletter #13 – Wenn ich drangeblieben wär

Hello aus der Hitze.

Ich wünsche dir einen schönen Tag, es freut mich, dass du meine Nachricht geöffnet hast. Zu Beginn möchte ich dich mit in den Falkenweg in meiner Heimatstadt Lindenberg nehmen, wo ich im Haus eines Freundes an einem großen Tisch sitze und zwei Pokerkarten vor mir habe. Mein Ruf eilt mir voraus, alle wissen, dass ich nur spiele, wenn ich etwas habe, also setze ich ein paar Chips und alle steigen aus. Niemand spielt mit mir.

Was der Beginn einer sehr traurigen Jugenderinnerung sein könnte, ist tatsächlich nur ein kleiner Aufhänger für einen Gedanken, den ich dieses Jahr sehr oft hatte. Vor kurzem hat der YouTube-Algorithmus mit ein Video des Pokerspielers Daniel Negreanu vor die Nase gespült, das ich, braver Konsument, der ich bin, direkt angeschaut habe. Er redet davon, wie sich die Pokertheorie seit der Hochzeit zwischen 2004 und 2010 im Vergleich zu heute entwickelt hat, wie es jetzt mehr um Range geht, also die Gegnerin auf eine Range von Karten zu tippen, die sie statistisch gesehen am ehesten spielen würde, in Abhängigkeit davon, wann sie dran ist und wer schon mit im Pot ist. „In our time“, sagt er, hätte man noch versucht, den Anderen auf ein ganz genaues Blatt festzulegen und entsprechend zu spielen.

Was ich in dem Moment dachte, war: Wenn ich drangeblieben wär, hätte ich diese ganze Entwicklung mitgemacht und wäre jetzt on top of my game. Ich hätte safe ne Liegenschaft am Meer, wenn ich drangeblieben wär.
Ich habe ganz gut gespielt, aber jetzt auch nicht überragend. Ich habe mir mal eine Wien-Fahrt finanziert, indem ich im Bus dorthin eine Baseballmannschaft aus Dornbirn ausgenommen habe. Aber natürlich studiere ich nicht nicht, um professioneller Pokerspieler zu werden. Natürlich nicht. Nur warum nicht. Das Eine ist doch so gut wie das Andere.

Jetzt bin ich Schriftsteller, also begann ich, einen Text über dieses Gefühl zu schreiben, das in mir auftauchte, sammelte Material.
2009-2014 arbeitete ich als Datenanalyst für die Fußball-Übertragungen von Sky, mittlerweile hat die ganze Statistikchose hat mit der neuen Generation Trainer komplett die Kontrolle übernommen. Aber jetzt könnte ich nirgends mehr einsteigen, weil ich die Entwicklung nicht mitgegangen bin. Wenn ich da mal drangeblieben wär.
2014 bot mir mein Institut eine Promotion an, die ich ein knappes Jahr lang auch verfolgte. Dann ging das Slam-Ding durch die Decke, und ich entschied mich fürs Auftreten statt Forschen. Und wenn man da ein mal raus ist, kommt man sehr schwer wieder rein, der Diskurs geht ja auch ohne einen selbst weiter. Wenn ich da drangeblieben wär.
Und selbst in meinem jetzigen Job: Ich habe Insta und Facebook gelöscht, verpasse dadurch aber große Teile der Digitalisierung der Literatur. Ich weiß von vielen meiner Freund:innen nicht, was sie gerade für Projekte haben. Ich sehe sie nur immer, wenn der YouTube-Algorithmus sie mir aufs Display spült und denke: Da könnte ich jetzt auch sein, wenn ich drangeblieben wär.
Es ist ein verlockender Gedanke. Und natürlich: Am Anfang von drei Jahren Promotionszeit oder fünf Jahren Zweitstudium wirken drei oder fünf Jahre wie eine sehr lange Zeit. Nach drei oder fünf Jahren merkt man aber: es war halt ein kleiner Abschnitt, hätte man schon angehen können.

Wenn ich jedoch bei alldem drangeblieben wär, wovon ich heute sage: hättest du es besser mal gemacht, dann wären andere Sachen hintenrunter gefallen. Ich wäre ziemlich sicher nicht aus der Depression herausgekommen, an der ich so viele Jahre gelitten habe. 400+ Stunden Therapie – ich bin drangeblieben. Die Beziehung zu meiner Familie verbessern – ich bin drangeblieben. Die Beziehung zu mir selbst verbessern – ich bin drangeblieben. Eine Partnerschaft führen, in der nicht permanent alle möglichen Traumata triggern, weil man bewusst miteinander umgeht – ich bin drangeblieben. Ich muss immer noch dranbleiben, es geht viel Kapazität für diese Themen drauf, und oft komme ich langsamer voran, als ich mir wünsche (ich schwankte bei der Themenauswahl dieses Briefs zwischen diesem hier und „Wie man immer wieder denkt, man hat’s, und dann hat man’s doch nicht“), aber ich kann darüber sprechen, wie sich mein Spiel von 2004 über 2010 bis heute entwickelt hat. Das schauen sich zwar keine verhinderten Pokerspieler auf YouTube an, aber es ist schön, nicht mehr nur zu spielen, wenn ich mir ganz sicher bin.


Auftritte nach dem Sommer:

27.09. Köln – Reim in Flammen im CBE
30.09. Duderstadt – Poetry Slam
03.10. Düsseldorf – Moderation des U20-Slams im zakk
06.10. Lindenberg – Moderation des Song Slams im Kulturboden
07.+08.11. Kempten – Moderation der AÜW kultSlams in der bigBOX


Bücher während des Sommers:

– Interior Chinatown (Charles Yu): Ein toller Roman über einen jungen Mann, der sich in Hollywood als Schauspieler versucht, aber nur stumme Rollen als „Generic Asian Guy“ bekommt. Seine Eltern waren „Girl with the Almond Eyes“ und „Old Asian Man“. Das ganze ist überwiegend im Format eines Drehbuchs geschrieben und ihre Geschichte ist unterhaltsam und berührend. So weit ich mich erinnern kann, war es das erste Buch, bei dem ich beim Lesen der Danksagung am Ende geweint habe.

– wir wissen, wir könnten, und fallen synchron (Yade Yasemin Önder): Ein Roman, den ich verschlungen habe, aber wie so oft nicht adäquat zusammenfassen kann. Ich weiß ein paar Monate später oft nur noch: fand ich richtig gut. Gerade habe ich eine Kritik in der SZ gelesen, das kannst du auch tun, wenn du mehr wissen willst. Ich will die nicht zitieren, sondern empfehle einfach: lesen!

Meine Sommermusik kommt dieses Jahr vom Lumpenpack und von Mackefisch, die sich mit den Ohrwürmern abwechseln. Beide haben eine sehr schöne Version des Themas Nachhaltigkeit / Klimawandel produziert, please listen to „Warm im Altenheim“ and „Generationengerechtigkeit“, respectively. Auch wenn Alex Burkhard, der das Lumpenpack empfiehlt, ein bisschen ist, wie Arne Maier, der über Instagram rausposaunt, dass Serge Gnabry ein ziemlich guter Fußballer ist.


Special Treat des Monats:
(nur verfügbar für Menschen, die den Newsletter abonniert haben)


Ich habe oben gesagt, dass ich angefangen habe, einen Text zu schreiben. Da will ich dir natürlich einen Auszug nicht vorenthalten:
Ich bin 18 und drehe die Chips in der Hand
Gegner einschätzen mit Grips und Verstand
Ein Freund trägt Sonnenbrille abends um zehn
doch sein Mundwinkel zuckt und alle haben’s geseh’n
Sein Gegner sagt „Call“ und gewinnt dann den Pot
den iPod im Ohr – meine Karten sind Schrott.

Wenn ich drangeblieben wär, hätte das bestimmt ein ziemlich guter Text werden können. Leider bleibt es bei Notizen in meinem Heft, wie
Vom Schüler, der auf Karten schwört
zum Wühler und zum Datennerd

Wenn ich drangeblieben wär, hätte ich wahrscheinlich mehrere Tausend Follower auf Insta (nach einem Workshop fragte letztens eine Schülerin nach meinem Handle, die ganze Klasse hatte die Smartphones in der Hand – ich sagte: unregelmäßige Newsletter kann ich anbieten – eine:r hat sich in die Liste eingetragen – herzlich willkommen!).

Dass du drangeblieben bist und diese Nachricht bis zum Ende gelesen hast, freut mich sehr. Ich hoffe, sie hat dir ein bisschen Spaß gemacht, und freue mich wie immer über eine Antwort oder einfach konstantes, stilles Mitlesen.

Alles Liebe und bis bald
Alex

Newsletter #12 – Dem Gleiches widerfuhr

Guten Morgen!

Bist du gut in den Frühling gekommen? Hattest du schon einen kleinen Sonnenbrand? Ich nämlich schon. Hier ist seit Wochen fast durchgehend blauer Himmel, und nach dem langen, grauen Winter tut mir das ziemlich gut.

Kurz vor Weihnachten hat mich die Nachricht erreicht, dass mein Hund Ibsen gestorben ist. Seit 2019 wohnte er ja bei Julia und Michi, seinen neuen Lieblingsmenschen, und hatte es wahnsinnig schön bei ihnen. Aber das Alter schickte ihm einen Tumor, und der hat in Windeseile die Milz gefressen, und von dort noch ganz viel anderes, so dass sie während der OP entscheiden mussten, ihn nicht mehr zu wecken. Als Julia mich angerufen hat, haben wir so viel geweint, und auch wenn er in den letzten zwei Jahren nicht mehr Teil meines Alltags war, war er doch Teil von mir, und ich habe einige Zeit gebraucht, um das zu verdauen. Ich war nur froh, dass ich eine Woche vorher in einem spontanen Anfall nach München gefahren bin und noch mal mit ihm spazieren war. Da ist er noch mit Stock im Maul an der Isar rumgesprungen, wie er es halt sein Leben lang getan hat. Nur als ich am Ende mein Gesicht in seinem Fell vergraben habe und ihm gesagt habe, wie forh ich bin, dass er bei mir war und dass er einen so tollen Ort gefunden hat, hat es sich – vor allem Rückblickend – ein bisschen nach Abschied angefühlt.

Letzten Sonntag haben wir uns dann alle noch mal getroffen und einen gemeinsamen Abschiedstag verbracht; wir sind seine Lieblingswege gelaufen und haben seine Asche verstreut, die viel grober war, als wir alle dachten; wir haben uns mit Tränen in den Augen Bilder angeschaut und Geschichten erzählt, und ich war fasziniert davon, wie er noch mal ein komplett neues Leben haben durfte – und wie er mich selbst nach seinem Tod noch mit neuen Menschen verbunden hat. Julias Papa und Schwester und Freundin haben so positiv über ihn gesprochen, so herzlich und liebevoll, und am nächsten Tag in der Therapie habe ich sehr geweint, weil ich realisiert habe, dass die ganzen schönen Worte auf einer Ebene auch mir galten, dem Mittzwanziger, mit dem Ibsen zu dem Hund geworden ist, der er war, und der in seiner Liebe gesehen werden wollte, aber so oft dachte, er wäre falsch, wie er ist.

Oh Mann, das Leben, echt. So schön, und so traurig, und so schön.

Literaturnews:

– Ich moderiere jetzt den U20-Slam in Düsseldorf (zusammen mit Caro Baum, das nächste Mal am 01.04.). Das Team des zakk hat mich wundervoll aufgenommen und eingebaut, und ich freue mich, dass ich Teil der lokalen Szene sein darf.
– Meine Freundin und ich schreiben an einem Kinderbuch, was ich vor allem deshalb erwähne, damit ich den Druck habe, es fertigzustellen. Ich reime die Geschichte, sie illustriert. Sehr schöner Zeitvertreib.

– Nächste Auftritte: 21.04. Best of Poetry Slam in Herne, Flottmann-Hallen; 25. und 26.04. AÜW kultSlam in Kempten, kultBOX; 07.07. Poetry Slam Lindenberg, Open Air am Hutmuseum.

– Danke an alle, die meinem letzten Special Treat nachgekommen sind: Weit über 100 Bücher von „Benutz es!“, meinem Mittelkind, habe ich kurz vor Weihnachten signiert und verschickt. Das neue Buch kriegt immer am meisten Aufmerksamkeit, deshalb gibt es „Benutz es!“ weiterhin in großen Mengen zum Einkaufspreis, zum Ausgleich sozusagen. Ideal zum Verschenken oder für Schulklassen oder sonstige Gruppen.

Kunst, die ich in den letzten Monaten mochte:

– Die arte-Doku über den Kapitalismus, die sie noch mal überarbeitet haben (Mediathek und YouTube); sechs Teile à mindestens eine Stunde. Danach kann man erst mal ne Weile lang nichts mehr schauen, aber dann möchte man lesen und weiter verstehen – warum Adam Smith missverstanden wird, was die Industrielle Revolution gemacht hat, und wer eigentlich Karl Polanyi war. Von Letzterem lese ich gerade „The Great Transformation“, und ich weiß nicht, ob ich jemals etwas gelesen habe, das mir mehr Verständnis über die letzten 300 Jahre vermittelt hat. Calvin & Hobbes möglicherweise.

– „Freundliche Fanatiker“ von Pankaj Mishra, ein Essayband darüber, dass es auch außerhalb des Westens Denker:innen gibt, und eine reiche Geschichte. Darüber, dass viel von dem, was wir heute als extremistisch wahrnehmen, sich erst durch den Imperialismus Großbritanniens und der USA herausgebildet hat. Darüber, dass es immer mehrere Blickwinkel gibt, die es sich zu kennen lohnt.

– „Wie schön wir waren“ von Imbolo Mbue, einer kamerunischen Autorin, die über ein Dorf schreibt, das gegen einen internationalen Ölkonzern aufsteht; frustrierend und berührend und wunderschön. Wem gehört eigentlich Land, was für Möglichkeiten hat die Einzelne, etwas zu ändern, und wie viele Leoparden gibt es überhaupt noch? Toller Roman!

– „Luke and Jon“ von Robert Williams, ein kleines Buch über zwei Jugendliche in Nordengland; es geht um Trauer, um die Frage, wo und wie man wohnen möchte und sollte und darf, es geht um sehr viel Verständnis und um ein riesiges hölzernes Pferd auf einer abgelegenen Waldlichtung.

– Meine Playlists. Zu Beginn jeder neuen Jahreszeit erstelle ich meiner Freundin eine Playlist, weil ich damit ganz am Anfang angefangen habe und weil es wenige Dinge gibt, die ich lieber tue. Nach ein paar Tagen darf die aber Jede:r anhören. Es haben sich bisher genau zwei Bands wiederholt: the Mountain Goats (über die ich hier erstaunlich lange nicht mehr gesprochen habe) und unsere Freund:innen von Mackefisch, Lucie und Peter. Ansonsten sind auf den mittlerweile 9 Playlists 124 unterschiedliche Künstler:innen zu entdecken. Enjoy! (Frühling 2020, Sommer 2020, Herbst 2020, Winter 2020, Frühling 2021, Sommer 2021, Herbst 2021, Winter 2021, Frühling 2022)

Special Treat des Monats:
(nur verfügbar für Menschen, die den Newsletter abonniert haben)

Ich hatte im März tatsächlich mal wieder zwei Auftritte und total Spaß daran. Und ich habe große Lust, das umzusetzen, was ich mir 2019, in präpandemischen Zeiten, vorgenommen habe, als ich in Rottweil war: Wohnzimmerlesungen. Jetzt wo wir alle geimpft sind und ein offenes Fenster nicht mehr zu Erfrierungen führt, würde ich gerne mal wieder ein paar Abende mit Lesen und Reden verbringen. Soll heißen: Wenn du ein Wohnzimmer hast oder jemanden kennst, der:die ein Wohnzimmer hat, oder eine Terrasse oder einen Garten oder eine Saunalandschaft mit Pool, dann lade deine Freund:innen und Familie ein, die Nachbarn und Dorfältesten und mich, und dann lese ich eine Stunde lang aus meinen Büchern, mache ein paar Slam-Texte, vielleicht nen kleinen Vorgeschmack aus dem Roman, worauf wir halt Lust haben, und anschließend tauschen wir uns aus und trinken was und genießen, dass es Literatur gibt. Das Angebot gilt vor allem bis Juni, denn so lange habe ich noch die BahnCard100. Gage brauche ich nicht. Nur je nach Ort und Tag einen Platz, um mich für die Nacht zusammenzurollen. Ich freue mich, wirklich, über deine Nachricht und einen gemeinsamen Abend und hoffe, dass ich sehr oft zusagen kann.

Ich freue mich, von dir zu hören und wünsche dir einen wunderbaren, sonnigen Tag!
Dein Alex

Newsletter #11 – Einen Roman tischlern

Guten Abend aus München.

Ich sitze in einem Hotelzimmer, habe, leicht angeschlagen, die letzten Stunden geschlafen und Teile des Seminars verpasst, wegen dem ich hier bin. Bevor ich wieder wegdämmere, dachte ich, es ist ein guter Zeitpunkt, dir mal wieder zu schreiben.

Es ist sehr viel passiert seit Februar. Bei dir auch? Neun Monate ist eine lange Spanne zwischen zwei Nachrichten von mir. Du könntest noch im Februar schwanger geworden sein und seit gestern dein Baby in den Armen gehalten haben. Which is exactly what happened to… nein 😀

Nach dem Umzug nach Düsseldorf im März habe ich ein paar Monate in einer Schreinerei gearbeitet. Das hat wahnsinnig viel Spaß gemacht, und es war toll, direkt etwas zu tun zu haben in meiner neuen Stadt. Ich habe gezeichnet, geschliffen, Holz ausgewählt, gehobelt, geschliffen, gebohrt, geschliffen und geschliffen. Ich habe wirklich viel geschliffen. Ich war fünf Tage auf Montage und habe mir beim Einbau eines Tchibo-Shops in Wiesbaden einen Metallsplitter in den Finger gejagt. Ich hatte eine Hand-OP. Sehr aufregend alles.

Einige Besuche im Tischtennis- und Aikido-Verein später, zahlreiche Open-Air-Konzerte, Rheinspaziergänge und Museumsbesuche später, ein halbes Jahr Zusammenleben später, fühle ich mich in Düsseldorf pudelwohl.

Was nichts von München wegnimmt. Die Tage hier sind sehr angenehm; die Seminarrunde im Literaturhaus ist wohlwollend und literaturnerdig, das tut gut. Die Münchner Herbstsonne weiß immer noch, was sie tut.
Und ich weiß auch, was ich tue. Nach außen sieht es weiterhin manchmal nicht danach aus, aber in mir ist es sehr ruhig. Ich bin glücklich. Ich meditiere sehr viel, habe weiterhin ab und zu zoom-Stunden mit meinem fantastischen Therapeuten, lerne, liebe, lese. Und schreibe. Hurra, ist dieses Jahr viel Romantext entstanden – im Rückblick noch wesentlich mehr, als es sich währenddessen angefühlt hat.

Vielleicht hast du auch deshalb nicht so viel von mir gehört: Es ging mir gut, und ich hatte gar nicht so oft das Bedürfnis, das aufzuschreiben. Ich war einfach.

Aber nun, hustend und hungrig im Hotelzimmer, war es an der Zeit. Vielen Dank für die Nachrichten, die ich in den letzten Monaten bekommen habe. Für die Einforderung des Newsletters. Das hat mich gerührt. Es ging mir immer nur darum, dass Menschen, die es interessiert, was ich (literarisch) tue, eine Möglichkeit hatten, von mir zu hören, so ganz ohne Facebook, Insta und Twitter. Dass daraus teilweise ein so reger Austausch geworden ist, freut mich sehr.


Und jetzt: Newsletter

– Morgen Abend (Dienstag, 20 Uhr) ist die Abschlusslesung der Bayerischen Akademie des Schreibens im Literaturhaus München. Wir lesen alle ein paar Seiten aus unseren Projekten und freuen uns, wenn jemand zuhört. Für Menschen, die nicht in München sind, gibt es einen Stream. Karten und Stream-Tickets (letzteres für 5 Euro) gibt es über die Seite des Literaturhauses: https://www.literaturhaus-muenchen.de/veranstaltung/zwischenstopp/

– Die Stützen dürfen Stützen. In Freiburg. Am 26.11. im Vorderhaus. Zum ersten Mal seit Oktober letzten Jahres werde ich mit Fee, Sven und Frank als „Die Stützen der Gesellschaft“ auf der Bühne stehen. Vorfreude ist gar kein Ausdruck für das, was ich spüre. Ich freue mich auf die erstaunlich vielen Freiburger:innen im Verteiler 🙂
https://www.vorderhaus.de/programm/die-stuetzen-der-gesellschaft-leseshow

– Ich war zu Gast auf dem Blog meines Freundes Nik Salsflausen. Er gibt wechselnden Kolleg:innen Schreibimpulse, und sie ihm. Letzte Woche durfte ich und schickte ihm – weil es gar so gut passte – das zweite Kapitel meines Romanprojekts, das ich ein bisschen als Einzeltext umgestaltet habe. Lesen kannst du unsere Texte (und auch alle bisherigen) hier: https://www.rahmenundreiz.de/

– Ich habe, nachdem ich letztes Mal meine neue Adresse in den Newsletter gepackt habe, tatsächlich Einzugspost bekommen. Ist eine Erwähnung wert. Danke <3

– Der SZ-Artikel über Ibsen und mich, der beim letzten Newsletter (http://alexburkhard.de/archiv/blog/) noch nicht veröffentlicht war, ist nun hier archiviert: https://www.sueddeutsche.de/muenchen/sz-serie-gassigedanken-folge-2-die-kunst-des-loslassens-1.5216452


Bücher, die ich in den letzten Monaten mochte:

– „Grief Is the Thing with Feathers“, der Debütroman des britischen Autors Max Porter, in dem die Trauer in der Figur einer Krähe bei einem Papa und seinen beiden Söhnen einzieht. Phantasievoll, abgedreht, warm, tief, wichtig, so unglaublich lesenswert. Mein Buch des Jahres!

– „Winters Garten“ von der österreichischen Autorin Valerie Fritsch. Debütroman, natürlich. Postapkalypse trifft auf Lebensentwürfe trifft auf eine Sprache, die ich so bisher selten gelesen habe. „Deine Anwesenheit hat in den Nervenenden begonnen und im Verstand nicht aufgehört.“ Alter, ich wünschte, das hätte ich geschrieben. Mein Buch des Jahres!

– „Den Hund überleben“, der Debütroman des deutschen Autors Stefan Hornbach, mit dem ich vor vielen, vielen Jahren an der Uni mal Theater gespielt habe. Ein junger Mann bekommt eine Krebsdiagnose und geht durch Wochen und Monate der Chemotherapie. Was sowohl klingt, als wäre es sehr, sehr traurig als auch als hätte man das doch schon ein paar Mal als Plot gelesen, ist eine wahnsinnig nahe und ehrliche Beschäftigung mit dem Leben und der Frage, was man alles schaffen kann. Ich kann es gar nicht besser beschreiben, aber ich konnte es nicht weglegen und war total begeistert. Mein Buch des Jahres!


Special Treat des Monats (na gut, Monat ist etwas übertrieben):
(nur verfügbar für Menschen, die den Newsletter abonniert haben)


Meine Freundin und ich haben nach dem Zusammenziehen begonnen, ein Mal im Monat ein Gespräch zu führen. Haha, nein, der Satz geht noch weiter. In dem wir uns ganz offen sagen, was gerade gut ist, was nicht, wie es weitergeht, was nervt, was toll ist. Wir nutzen dazu die Methode des Finger-Feedbacks (not what you think), die wir aus dem Theater- bzw. Workshopkontext kennen, und die sich an den fünf Fingern der Hand orientiert:
Daumen: Was war super, was hast du gut gemacht?
Zeigefinger: Da musst du vielleicht aufpassen.
Mittelfinger: Das kotzt mich richtig an. (Es ist total befreiend, sich sagen zu können, was nervt, auch wenn es Kleinigkeiten sind. Der Rahmen des Feedback-Gesprächs und die Tatsache, dass beide was sagen, funktioniert für uns mega gut.)
Ringfinger: Das ist auf lange Sicht wichtig!
Kleiner Finger: Etwas besonderes Kleines zum Schluss, das mir (und möglicherweise nur mir) an dir aufgefallen ist
Was etwas seltsam klingen mag, ist für mich total schön. Wir malen unsere Hände auf, schreiben jeweils einen Stichpunkt in die Finger und reden ganz lange darüber. So hat nichts die Chance, über Monate zu schwelen. Kann ich nur empfehlen.

So, ich werde mich jetzt wieder ins Bett legen und den Rest der Erkältung wegschlafen. Morgen dann der Auftritt im Literaturhaus, vielleicht sehen wir uns da ja, persönlich oder im Stream. Ich finde es toll, dass du den Newsletter gelesen hast (Daumen), du musst aufpassen, dass du dir keinen Metallsplitter ins Gelenk jagst (Zeigefinger), es kotzt mich an, dass irgendjemand den Newsletter als Spam markiert hat, obwohl er:sie sich dafür angemeldet hat und sich jederzeit abmelden kann (Mittelfinger), auf lange Sicht ist es wichtig, dass wir uns mal wieder persönlich begegnen (Ringfinger), und das kleine Extra: Deine Augen sind sehr schön. Kann ich ja aus dem Computer raus sehen, wenn du liest. Echt schön blau. Oder grün. Braun.

Hab es gut. Ich freue mich, wenn du mir schreiben magst. Und auch, wenn du, wie so viele, einfach mitliest.

Alles Liebe
Alex

Newsletter #10 – Ein Koffer in München

Hello!

Wie ging es dir seit dem letzten Newsletter? Mich haben der Dezember und der Januar schon etwas gefordert, besonders in der aktuellen Lage. Doch nun scheint die Sonne. Und es ist warm. Gestern war ich erstmals wieder ohne Jacke draußen. Das ist immer ein besonderer Tag! Gleich gehe ich mit meiner Schwester Kathi Tischtennis spielen. Sie wird erzählen, wie ich es ihr als Kind beigebracht habe, wie sie es immer tut. Und dann wird sie mich abziehen, wie sie es neuerdings gerne tut.

Ich hätte zwischen November und heute viele Dinge gehabt, über die ich hätte schreiben können. Aber die meisten wollte ich erst einmal für mich behandeln, und nicht, wie ich es oft getan habe, alles sofort nach Außen verlagern. There were feelings to be felt. Good ones, too.

Über meinen neuen Neffen Matteo hätte ich schreiben können, der 10 Wochen zu früh auf die Welt kam. Zwei Monate pendelte meine Schwester Ramona zwischen zu Hause und der Klinik, um beiden Kindern gerecht zu werden, obwohl sie das ohnehin mehr als wird. Wie ich ihn vergangenes Wochenende nach zwei negativen Tests meinerseits endlich im Arm halten durfte, und wie schön sich das angefühlt hat.

Ich hätte darüber schreiben können, wie ich Weihnachten eben nicht mit meiner Familie verbracht habe, weil ich keine Gefährdung sein wollte. Wie ich aber doch eine Familie um mich hatte, nämlich die Familie meiner Freundin, die schon meine geworden ist mittlerweile.

Wie ich Silvester mit meiner Mitbewohnerin verbracht habe und wir zu den Alabama Shakes und Paul McCartneys neuem Album durch ihr riesiges Zimmer getanzt sind. Dass das Album echt ganz gut ist, hätte ich dir schreiben können.

Und schließlich hätte ich darüber schreiben können, wie ich mich gerade ein zweites Mal von München verabschiede, aber dieses Mal nicht im Groll („niemand will mir eine Wohnung vermieten, grrr“), sondern in Liebe. Ich den 14 Monaten, in denen ich nun wieder hier war, durfte ich erkennen, dass diese Stadt meine Heimat ist. Ich habe die Au und das Glockenbachviertel neu kennengelernt, die Isar, und ich habe erlebt, wie vielen Menschen ich in dieser Stadt verbunden bin. Wenn ich in Zukunft zurück komme, und ich hoffe, dass das oft sein wird und bald wieder etwas Auftrittsähnliches stattfinden kann, dann wird es in großer Freude sein.

Gerade merke ich, wie entspannt ein Umzug sein kann. Dass sich eine Wohnung findet. Die Einrichtung für die Wohnung. Der Abschied von der Therapiegruppe. Das Organisieren von Transport und Helfer:innen. Dazu ist eine gewaltige Menge an Vertrauen nötig, aber das habe ich seit letztem Jahr im Überfluss.

Wenn ich über all das geschrieben hätte, bevor ich es für mich erlebt hätte, wäre es in einer gewissen Weise eingeordnet worden. Von mir, von dir. Von den Buchstaben, die es schwarz auf weiß beschreiben. So konnte ich es einfach da sein lassen, oft erst einmal ohne Bewertung, und das ist vielleicht die wertvollste Lektion, die ich seit letztem Jahr gelernt habe.


News im Newsletter:

– Meine neue Adresse ab 01.03. ist Sternstraße 54, 40479 Düsseldorf. Das muss sowieso im Impressum der Website stehen, also kann ich sie genauso gut hier herausposaunen. Glückwunschkarten und Schecks werden gerne entgegengenommen.

– Vergangene Woche war ich mit einer Redakteurin und einem Fotografen der SZ im Englischen Garten. Sie haben Ibsen und mich auf einem Spaziergang begleitet, für ihre Reihe „Herr und Hund“. (Der Artikel kommt wohl nächste Woche.) Als ich schrieb, dass Ibsen seit zwei Jahren ein fantastisches neues Zuhause hat und ich bald nicht mehr bayerischer Künstler sei, zumindest vom offiziellen Wohnsitz her, sagten sie: „Gut, dann eben Ex-Herr und Ex-Hund.“ Das hat mich wahnsinnig gefreut, weil es auch eine Wertschätzung für mich als Teil der Münchner Kulturszene darstellt.

– Ebenso wie die Tatsache, dass mein alter Koffer mit Hunderten bearbeiteten Erstdrucken von Texten, Notizbüchern, Terminkalendern, Skripten und Gimmicks nun in der Monacensia steht. „Alex Burkhard, Bühnenkoffer mit Inhalt 2008-2020“. Ich habe sogar eine Schenkungsurkunde erhalten. Mein Therapeut sagte: „Sie haben im wahrsten Sinne des Wortes noch einen Koffer in München.“ Cheesy, but yeah. In der Bibliothek und im Archiv bin ich fortan also Teil des literarischen Gedächtnisses der Stadt München. Was für eine Ehre!

– Im Januar war ich zu Gast in einer Folge des Allgäu-Podcasts, die, wie ich finde, sehr, sehr schön geworden ist. Du kannst sie hier anhören. Außerdem habe ich letztes Jahr vier Folgen dieses Podcasts moderiert, die nun hintereinander kurz nach der Ausgabe mit mir veröffentlicht worden sind. Ich habe mich mit insgesamt sechs Menschen getroffen, mit denen ich mich über ihre Berufe, ihre Beziehung zum Allgäu und ihr Warum unterhalten habe. Spannender als es klingt, das hat viel Spaß gemacht!


Kunst, die ich in den letzten Monten mochte:

– Olga Tokarczuk: Die grünen Kinder. Ein Buch voller bizarrer Geschichten, das ich wahnsinnig gerne gelesen habe. Ich kann es nicht beschreiben, aber ein dermaßenes sprachliches Niveau gepaart mit Plot, Abgründen, Humor und Zugänglichkeit fällt mir selten in die Hände.

– Tom Rosenthal ist ein weirder, tiefgründiger, schönstimmiger Musiker. Letztes Jahr um diese Zeit durfte ich „Big Pot of Hummus“ und „It’s Been a Year“ entdecken, seitdem „Hugging You“, „Albert Camus“ und „Hope“. Jedes Lied anders, jedes Lied cool. Ein Higlight ist „157“, in dem er einfach bis 157 zählt und es zehn Minuten lang musikalisch begleitet, in verschiedenen Stilen. Man sollte es nicht meinen, aber ich habe es schon zwei Mal komplett gehört.


Special Treat des Monats:
(nur verfügbar für Menschen, die den Newsletter abonniert haben)


Apropos: die Besten. Zwei der Besten sind in den vergangenen Wochen von uns gegangen. Die Besten nicht im Sinne ihrer Fähigkeiten, sondern ihrer Gesellschaft. Hans, der immer grantige Techniker im Fraunhofer Theater, der uns zig Shows ermöglicht hat, und Pommi, die immer laute Kulturgängerin, die die Kleinkunstszene in München vielleicht mehr geprägt hat als irgendwelche einzelnen Künstler:innen. Ich habe es jeweils von meinem Freund Frank erfahren und war wahnsinnig getroffen. In den ersten Shows habe ich unseren Gästen bei „Die Stützen der Gesellschaft“ immer gesagt: „Ja, der Techniker, der ist bisschen schwierig.“ Am Ende habe ich Hans gesagt: „Ja, die Gäste, die können nicht so mit Mikro. Sei nett zu ihnen“, und er hat mir zugezwinkert. Und nach der Show saßen wir alle zusammen und haben Kaiserschmarrn gegessen – oder in Hans‘ Fall: Einen Braten! Pommi wiederum lenkte ihre Gabel geschickt in die Süßspeise und das Apfelmus und lobte die Show, vor allem unsere Gäste. Ihr „Klasse!“ nach dem Ende jedes Texts schummelte sich zwischen Pointe und Applaus, so zielsicher als hätte Pommi nie etwas anderes getan, als in der ersten Reihe zu sitzen und eine Show mit ihrer Anwesenheit aufzuwerten. Beide haben mir eine Lektion darin gegeben, dass erste Eindrücke nicht immer die entscheidenden sind, und dass Menschen einem sehr ans Herz wachsen können. Die beiden werden mir sehr fehlen.

Jetzt ist viel geschrieben und viel nicht geschrieben. Wie so oft in meinen Texten. Mehr dann bald wieder persönlich oder im nächsten Brief.

Fühl dich umarmt (und ich bin ein guter Umarmer!), ich wünsche dir alles Liebe für die nächste Zeit!
Dein Alex

Newsletter #9 – Dichter:innen und Denker:innen

Ladies and Genderfans,

meine Freundin Fee und ich schreiben uns seit Jahren Nachrichten aus dem Zug mit Dingen, die wir verstehen, wenn die Begleiter:innen „Ladies and Gentlemen“ sagen. Ladies and Champions, Ladies and Schelme. Ladies and Jennifer. Es ist ein großer Spaß. Ist mir nur gerade eingefallen, als ich den Betreff genderte.

Fee und ich haben uns zuletzt Mitte Oktober gesehen, als entgegen aller Wahrscheinlichkeiten unsere Lesebühne „Die Stützen der Gesellschaft“ stattfinden konnte. In meiner Heimatstadt Lindenberg. Alle im Publikum trugen Maske, saßen auseinander, niemand sang bei Franks „Gefühlter Übersetzung“ mit, und wir mussten das Mikro desinfizieren, wenn wir dran waren. Und trotzdem hatten wir Tränen in den Augen während der Show und danach, weil wir uns so gefreut haben, endlich mal wieder (zuletzt im Februar) zusammen auftreten zu dürfen. Am Ende wurde Sven sehr emotional und nahm das Publikum in die Pflicht, der Kultur beizustehen in diesen Zeiten. Wir hätten uns alle hart erarbeitet, von unserer Kunst leben zu können, und die momentanen Vorschriften gingen vielen an die Existenz. Es sei mehr als ein bisschen vorlesen. Unsere Leben hingen daran, dass wir diese Phase überstünden. Ein Lockdown in dieser Form käme einem Berufsverbot gleich, für alle vor und hinter und auf den Bühnen des Landes. Er sagte noch mehr, und er sagte es schöner, vor allem, weil seine Stimme so schön tief ist.

Ich war kurz irritiert, denn es war meine Heimat, und hier stand dieser erfahrene, whiskytiefe Philosoph, der mir so oft ein Vorbild war, und bat Menschen, die mich kennen, darum, doch bitteschön ordentlich Bücher zu kaufen und andere Dinge zu unternehmen, damit wir und damit die Kunst all das überleben. Was sollen die Leute denken, erinnerte ich mich an einen Buchtitel von Jess Jochimsen. Doch dann war ich stolz, weil Sven formulierte, was ich oft gedacht, aber nicht ausgesprochen hatte. Während des Lockdowns kommst du mal wieder zum Lesen? Kunst. Eine Serie schauen? Kunst. Netflix, die Lieblingsmusik, Brettspiele? Die Kunst hilft jeder und jedem von uns, den Verstand nicht zu verlieren in dieser Zeit, da dies so wahnsinnig leicht ist.

Neulich stand ich in Balingen, wo die DB-Busse („Ladies und Schämen“) alle zwei Stunden fahren, und während des Wartens sah ich ungefähr 50 Schüler:innen sich über Minuten am Bahnsteig auf den Bus warten, während sie sich anschrien, schubsten, umarmten. Keine Masken, nichts. Ich mache ihnen keinen Vorwurf. Wenn ich den ganzen Tag in der Schule Maske tragen müsste, würde ich auch jede Gelegenheit nutzen, sie mir vom Gesicht zu ziehen. Ich mache noch nicht mal denjenigen einen Vorwurf, die all das entscheiden müssen, denn in ihrer Haut möchte ich nicht stecken. Doch egal, wie das Virus jetzt mit Jugendlichen verfährt, finde ich es absurd, Schulen mit mehreren Hundert Schüler:innen offen zu lassen (ja, ich weiß, sonst könnten deren Eltern dem Staat keine Arbeitskraft liefern und, wichtiger, viele Eltern sind darauf angewiesen, dass ihre Kids in der Schule Mittagessen, etc.), während Kulturveranstaltungen mit extremen hygienischen Auflagen dicht machen müssen.

Eine Lösung für die momentane Situation habe ich nicht, und halte mich an die Regeln. Doch Sven hatte Recht: Sie treffen die Kulturbranche unverhältnismäßig hart. Wie meine Freunde Max und Jonas aka Das Lumpenpack (schau dir ihr neues Video an!) singen: „Hilfe für die Lufthansa, Mitleid für die Kunst.“ Deshalb auch hier noch mal der Aufruf: Ein ganzen Jahr seinen Beruf nur eingeschränkt oder nicht ausüben zu können, geht an niemandem spurlos vorbei. Ob finanziell oder psychisch. Wir sind nicht die Einzigen, das ist klar, und ich selbst kam recht glimpflich durch das Jahr. Aber viele meiner Kolleg:innen genauso wie Bekannte aus der Veranstaltungsszene kommen an ihr Limit. Die Bitte ist einfach: Vergiss uns nicht. Und damit meine ich nicht Netflix und Amazon Prime. Ich meine diejenigen, die deine Stadt, dein Umfeld, deinen Alltag und dein seltsames Jahr begleiten mit ihrem Schaffen. Support your local artists as much as you can.

News:

– Morgen beginnt die Bayerische Akademie des Schreibens. Ich hatte die letzten beiden Male vollkommen vergessen, dir zu sagen, dass ich für das diesjährige Seminar angenommen wurde. Bedeutet 3×5 Tage Blockseminar, und am Ende hoffentlich eine schöne Version eines Romans. Veranstaltet vom Literaturhaus München und dieses Jahr hauptsächlich über Zoom begleiten eine Autorin und ein Lektor neun Schriftsteller:innen bei der Arbeit. Und ich mittendrin. Juhu!

– Ich habe einen Text geschrieben, weil der Sponsor des Kemptener Slams, die AÜW, 100 Jahre alt wird. Sie wollten deshalb von mir etwas zum Thema Energie, und ich habe mir viel Mühe gegeben und schließlich diesen Text hier über mich als Energy-Man geschrieben. Enjoy!

– Mein lieber Verlag, der Satyr Verlag Berlin, ist von der Pandemie besonders betroffen, da er etwa ein Drittel seines Umsatzes mit dem Verkauf bei Live-Veranstaltungen macht. Solltest du ein Weihnachtsgeschenk für jemand Liebes brauchen oder dich selbst etwas im Sortiment umschauen wollen, freut Volker sich. Du bekommst dort alle meine bisher erschienenen Bücher. Davon werde ich persönlich zwar nicht reich, aber wie gesagt: Ich komme gut durch. Jetzt geht es erst einmal um die Anderen. Ich möchte auch in ein oder zwei Jahren noch in einer Welt mit Verlagen, Buchhandlungen, Gastronomie und Konzerten leben.

– Und jetzt die Belohnung für so viel Engagement deinerseits: Ich habe im Oktober und November sehr viele Gedichte geschrieben, und grob überschlagen reichen sie aus, um einen Adventskalender damit zu machen. Auf meiner Website unter alexburkhard.de/archiv/blog gibt es ab 01.12. jeden Tag ein Gedicht für dich. Und manche sind wirklich gut!

Kunst, die ich in den letzten Wochen mochte:

– Meine Gedichte. Hihi.

– Den Instagram-Kanal von @feliciachiao

La casa de papel auf Netflix. Die ersten beiden Staffeln haben mich richtig gepackt. Ist immer schön, wenn Figuren nicht als gut oder schlecht dargestellt werden, sondern sämtlich eine Story haben. Für jede Staffel habe ich zwei Bücher in der Buchhandlung gekauft. Das nur so als Orientierung :-*

Special Treat des Monats:
(nur verfügbar für Menschen, die den Newsletter abonniert haben)

Den Betreff des Newsletters habe ich vor dem Rest geschrieben. Er suggeriert eine intensive Beschäftigung mit gegenderter Sprache in Deutschland und ob sie in der Literatur funktioniert. Das war dann heute gar nicht das Thema, aber wichtig wäre es trotzdem. Gendern ist wichtig, weil Sprache unsere Wahrnehmung prägt. Und so lange in diesem Land keine faktische Gleichberechtigung herrscht, sollten wir diesen Weg gehen. Wenn ich auch im Roman nicht immer mit :innen gendern werden kann, so versuche ich es doch, und wo es nicht geht, nehme ich einfach abwechselnd die weibliche und die männliche Form. Auch wenn weibliche und männliche Form auch nur gesellschaftliche Konstrukte usw. Das als kleiner Exkurs am Ende. Weil viel unterging in diesem verrückten Jahr.

Ich wünsche dir eine schöne Vorweihnachtszeit und viel Spaß mit meinem Adventskalender. Gute Rauhnächte auch, die haben letztes Jahr ihre Magie bei mir voll entfaltet. Ich wünsche dir Liebe und dass du siehst und gesehen wirst. Vor allem wünsche ich dir Gesundheit. Du darfst stolz darauf sein, was du bis hierher geleistet hast.

Alles Liebe
Alex

Newsletter #8 – Mein größtes Vorbild

Liebe – wie hätte Bastian Pastewka als Brisko Schneider in der Wochenshow gesagt – Liebende!

Ich möchte in dieser Ausgabe des Newsletters über Vorbilder sprechen. Ich hatte in meinem Leben einige: meinen Grundschullehrer Herr Pickenhan, der auch im Alter noch fit war; José Mourinho, der als Nicht-Profi Fußballtrainer geworden ist; unzählige Schriftsteller:innen, die mich selbst einer werden wollen ließen; Frank Klötgen wegen seiner Reime und Neologismen; meine Freundin Franzi, die ich für Ihre Art bewundere, mit Menschen umzugehen. Mein größtes Vorbild seit gut einem Jahr: meine jüngere Schwester Kathi.

Vergangenes Wochenende war unser 7-jähriger Neffe bei ihr in München zu Gast, und obwohl das ganze Wochenende veranschlagt war, wollte er am Samstagabend wieder nach Hause. Sie riefen meine noch jüngere Schwester Tami an, die gerade staubsaugte. Was man halt so macht, wenn das Kind mal nicht daheim ist. „Wenn du in 10 Minuten immer noch willst, fahre ich los“, sagte sie. Er wollte. Am nächsten Tag spielten Kathi und ich am Johannisplatz Tischtennis, wie wir das seit ein paar Monaten häufig tun. Während sie mir die Bälle um die Ohren haute, erzählte sie, dass sie erst um drei Uhr morgens einschlafen konnte. Was sie bis dahin gemacht hatte: geordnet. Unser Neffe war in München überfordert von dem Input, den er von ihr und der Stadt bekam. Während ich (beim Versuch, einen ihrer Schmetterbälle zu bekommen) gegen einen Baum krachte, sagte sie: „Er brauchte ein Gefühl von Zu Hause, sein Zimmer, seine Dinge, die er kennt.“ Und wenn zur Ruhe kommen für ihn bedeutet, dass er auch mal vor der PlayStation sitzt, then who the hell cares. Kathi hat unseren Neffen die ersten Jahre mit erzogen, weil sie damals im Allgäu gewohnt hat. Er ist sehr sensibel, und die beiden haben ein besonderes Verhältnis. Als Tami ihn holte, so erfuhr ich, während mein Return im Netz landete, fragte er, wann sie wieder ins Allgäu ziehe. Was sie aus all dem mitgenommen hat: Es lag nicht an ihr.

Wir alle sind schnell dabei, Dinge persönlich zu nehmen, die Reaktionen anderer Menschen auf uns zu beziehen. Kathi, die sich wie ich sehr mit dem Thema Selbstliebe beschäftigt, hat am Samstag in ein paar Stunden geschafft, wofür ich oft länger brauche. Manchmal schaffe ich es gar nicht. Sie hat durch Meditation, durch liebevolles Umgehen mit sich einen Trigger aufgelöst. Sie hätte den Wunsch unseres Neffen leicht persönlich nehmen können; sie hatte viel geplant für das Wochenende, sie hatte sich wochenlang auf die Zeit mit ihm gefreut. Aber sie ist wahnsinnig toll mit ihm und seinen Bedürfnissen umgegangen, und mindestens genauso gut mit sich und ihren Gefühlen, die das Ganze hervorgerufen hat. Für dich ist das möglicherweise gar keine großes Thema, aber ich war sehr beeindruckt von ihr.

Später holten wir uns einen Kaffee (sie) und ein Eis (ich) und saßen noch etwas in der Herbstsonne. Sie ärgerte sich, dass sie keinen Recup mitgenommen hatte, um sich den Kaffee einfüllen zu lassen. Es war ihr zweiter Einwegbecher in diesem Jahr. „Zwei zu viel“, sagte sie. Mit einer Freundin habe ich die 80%-Regel. Wenn jeder 80% der Zeit Gutes tut (aus unserer Sicht Gutes, zum Beispiel 80% der Zeit vegan leben, in 80% der Fälle nachsichtig mit Mitmenschen umgeht, 80% der Zeit dem Drang widersteht, bei Amazon zu bestellen), dann wäre die Welt sehr viel besser. Vorbildfunktion haben Menschen für mich immer dann, wenn ich mich mit ihnen verbunden fühle, wenn sie nahbar sind, wenn sie sich Mühe geben, aber auch Fehler haben. Franzi schafft es auch nicht immer, liebevoll mit sich und anderen umzugehen, aber wenn ich schätzen müsste, wie oft, würde ich sagen: 80% der Zeit. Frank Klötgens Megareime feiere ich in ca. 80% der Fälle, ich mag, grob geschätzt, 4 von 5 Sätzen in meinen Lieblingsbüchern, und José Mourinho gewinnt nicht mal ansatzweise 80% seiner Spiele, und wird von weit weniger seiner Spieler gemocht. Nur Herr Pickenhan, über den weiß ich nichts Negatives zu sagen.

Der Punkt, den ich seit ein paar Zeilen, und auch vergangenen Sonntag, machen möchte, ist der Folgende: Ich schaue eher zu jemandem auf, der oder die mir in 80% der Fälle ihre Ideale, Einstellungen, Ideen vorlebt, und in den restlichen Fällen nachsichtig mit sich umgeht im Wissen, dass niemand perfekt ist, als zu jemandem, der oder die Ersteres zwar in 95% der Fälle schafft, sich aber für die verbleibenden 5% komplett fertig macht und verkrampft an einem Ideal festhält. Es bringt ja nichts, sich vorzunehmen, nicht so perfektionistisch zu sein, und sich dann zu ärgern, dass man das nicht perfekt hinkriegt. Das sage ich aus leidvoller Erfahrung.

Kathi sieht mich übrigens auch als Vorbild. Das hat mit meiner Rolle als großer Bruder zu tun, aber auch damit, dass ich dieses Jahr sehr viel Zeit investiert habe, loszulassen. Wie oft ich das nicht schaffe? Ungefähr jedes fünfte Mal. Aber das ist okay.

Handfeste News:

– Am kommenden Samstag, den 10.10., gibt es tatsächlich mal wieder einen Auftritt. Die Stützen der Gesellschaft geben sich die Ehre in Lindenberg im Allgäu. Ich habe Fee seit Februar nicht gesehen, und ich fürchte, ich werde sie umarmen müssen. Frank und Sven begrüße ich aus der Ferne. Ach, das wird toll. Und weil auch viele Freiburger:innen im Newsletter mit dabei sind: 03.12., die Stützen im Vorderhaus.
Alle Termine (auch einer in München, mit Teilen des BR-Kammerorchesters) gibt es hier.

– Der Herbst ist da.

– Ich bin jetzt auch offiziell nicht mehr Rottweiler Stadtschreiber. Vor zwei Wochen habe ich mein Amt übergeben. Ich habe mich dermaßen gefreut, für die Zeremonie noch mal nach Rottweil zu fahren! Das ist in den drei Monaten dort ein besonderer Ort für mich geworden. Was ich meinem Nachfolger mit auf den Weg gegeben habe, kannst du hier nachlesen.

Kunst, die ich zuletzt gut fand:

– Eine Freundin hat mich ein bisschen in die Fantasy hineingelockt, und besonders gefallen hat mir The Amulet of Samarkand, der erste Teil der Bartimaeus-Trilogie. Als Kind konnte ich nichts anfangen mit diesen fremden Welten, jetzt lerne ich sie spät, aber sehr gerne schätzen. Vor allem der Tonfall in diesen Romanen taugt mir extrem: umgangssprachlich und doch literarisch, persönlich und doch ironisch. Es ist ein bisschen her, dass ich ein Buch nur aus Spaß an der Freude gelesen habe, „nur“ aus Unterhaltungsgründen. Tat mal wieder gut.
Weitere großartige Bücher meiner Sommerlektüreliste: Unrast von Olga Tokarczuk, GRM von Sibylle Berg und Americanah von Chimamanda Ngozi Adichie.

– Besagte Freundin hat mir auch Stardew Valley gezeigt, ein Computerspiel, bei dem man zu Beginn seinen Bürojob hinschmeißt, um auf der Farm seines Opas neu anzufangen. Man baut Gemüse an, lernt die Dorbewohner:innen kennen, man gießt sehr viel, angelt, geht in die Mine und entdeckt die liebevoll gestaltete Welt. Jede:r Mitmensch dort hat eine Story, die man nach und nach mitbekommt, und alles ist wahnsinnig integrativ. Es gibt eine riesige Community, Fan-Comics aus aller Welt, ein Wiki, das volle Programm. Ich habe mich immer geschämt, Zeit mit Computerspielen zu verbringen, weil ich dachte: da kann ich auch was Sinnvolles machen. Das stimmt. Aber ich darf auch mal ein paar Stunden am Computer sitzen. Wenn ich Kinder hätte, die natürlich ohne Handy, Fernseher und Zucker aufwüchsen, – wenn ich also Kinder hätte: Stardew Valley dürften sie spielen. Und ich stünde hinter ihnen und würde die Welt feiern, die sie da entdecken.

– Mein momentanes Lieblingslied ist „No Hell“ von Cloud Cult. Selten Lyrics so sehr geliebt, selten die Musik dazu so selbstvergessen gehört. Ist auch auf meiner Herbstplaylist auf Spotify, die ich in den letzten Wochen ungefähr 80% der Zeit laufen habe.

Special Treat des Monats:
(nur verfügbar für Menschen, die den Newsletter abonniert haben)

Danke fürs Lesen. Wie immer freue ich mich, dass du meine Gedanken spannend genug findest, um ihnen ein wenig deiner Zeit zu schenken. Ich habe in den letzten Monaten viel Feedback von dieser Newsletter-Community bekommen und freue mich weiterhin über jede Mail, die mich erreicht, auch wenn ich nicht immer sofort antworte.

Und wenn dir heute beim Arbeiten jemand blöd kommt, denk daran: Es hat nichts mit dir zu tun. Da sind Bedürfnisse und Trigger bei der anderen Person, die sie nicht sieht oder sehen will. Das heißt nicht, dass es okay ist, wenn dir jemand blöd kommt, aber es sagt rein gar nichts über dich als Menschen aus. Du bist perfekt, wie du bist. In 100% der Fälle. Und du bist für viele Menschen ein Vorbild, selbst wenn du dich selbst nicht immer als solches wahrnimmst.

Namasté. (Haha, du dachtest nicht, dass ich am Ende so dick auftrage, oder? Gerade deshalb!)
Dein Alex

Newsletter #7 – Was wir können

Werteste:r Sommergenießende:r,

regnet es bei dir auch? In München schüttet es einen erfrischenden Morgenregen vom Himmel, während ich am offenen Fenster sitze. Ich hoffe, es ist dir gut ergangen seit meinem letzten Newsletter; vielen Dank für die vielen schönen und liebevollen Reaktionen!

In medias res. Fortan werde ich mindestens 10% meines Einkommens spenden, und mit fortan meine ich: für immer. Nicht, weil deine Reaktion so liebevoll war (und leider auch nicht an dich), sondern weil ich selbst mit meinem dieses Jahr sehr reduzierten Einkommen noch unter den 5% der reichsten Menschen der Welt bin. (Du kannst hier kalkulieren, wo du mit deinem Einkommen stehst.) Also habe ich den Pledge der „Giving What We Can Foundation“ unterschrieben, der in keiner anderen Weise als moralisch bindend ist.

Das Prinzip hinter diesen Gedanken lautet „Effektiver Altruismus“ und beschäftigt sich damit, wie du – unter der Annahme, dass jedes Menschenleben gleich viel Wert ist (und, ähm, ja: das ist es!) – am effektivsten helfen kannst. Er nutzt datenbasierte Überlegungen und Studien, um darauf eine Antwort zu finden. Als Beispiel nennt William MacAskill in seinem Buch „Doing Good Better“ Bildungsprogramme in der Dritten Welt: Um die Anwesenheit in der Schule zu steigern, wurde versucht, Mädchen Geld als Ansporn für den Schulbesuch zu überweisen, Stipendien zu vergeben, Schuluniformen zu sponsern. Am Effektivsten (und zwar 695-mal effektiver als Geld) war: Entwurmung. Denn Viele bleiben den Schulen aus Angst vor Krankheiten fern. Für 1,000 Dollar konnten 139 zusätzliche Schuljahre erreicht werden (Geld: 0,2, Stipendien: 2,7, Uniformen: 7,1, S. 60).

Die Fragen des Effektiven Altruismus sind:
1. Wie viele Menschen profitieren davon, und wie sehr?
2. Ist das die effektivste Sache, die du tun kannst?
3. Ist dieser Bereich vernachlässigt?
4. Was wäre sonst passiert? (Zum Beispiel, auch wenn es weh tut: Wenn du nicht Arzt geworden wärst, wäre es ein anderer geworden, denn viel mehr Menschen wollen Arzt werden als es dürfen. Welchen wirklichen Mehrwert hat es also, dass genau du Arzt geworden bist?)
5. Wie hoch sind die Chancen auf Erfolg, und wie groß wäre der Erfolg?

GiveWell ist eine Organisation, die extrem detaillierte Berichte über Wohltätigkeitsorganisationen anfertigt und Empfehlungen ausspricht. (Hier ist eine Liste der Top Charities.) Es ist eine Nonprofit, genau wie effectivealtruism.org. Ich habe mir immer schwergetan, zu spenden, weil ich nie wusste, wohin. Was passiert mit meinem Geld? Wie viel Gutes tue ich wirklich damit? Das hat dazu geführt, dass ich in den letzten Jahren kaum noch etwas gegeben habe. Ich unterschreibe nicht jede einzelne These, aber der Effektive Altruismus gefällt mir in seiner Denkweise. Auch wenn es vielleicht zufriedenstellener ist, nach einem Erdbeben Geld nach Japan zu schicken, weil die Medien über nichts anderes berichten, ist es weitaus effektiver, für das selbe Geld Tausende von Bettnetzen zu spenden, um die Verbreitung von Malaria zu stoppen.

Ich habe mich sehr in das Thema eingelesen in den letzten Wochen, und bin zu dem Entschluss gekommen, dass die Liebe und die Wärme, die ich im Persönlichen geben kann, etwas Schönes und Wichtiges sind. Dass ich im Kleinen gut helfen und da sein kann. Aber dass meine andere Ressource, nämlich Geld, dort am Besten aufgehoben ist, wo es gebraucht wird. Statistiken zeigen zum Beispiel, dass es wahnsinnig effektiv ist, extrem armen Menschen einfach ganz direkt Geld zu überweisen (GiveDirectly), statt irgendwas dazwischenzuschalten. Wer hätte das gedacht.

Der Effektive Altruismus lässt sich auch auf Tierschutz und Klimaschutz anwenden. Auch da gibt es überraschende und manchmal unintuitive Ergebnisse. Spannend fand ich vor allem, was für einen Einfluss dein Kaufverhalten auf die Produktion von Lebensmitteln hat: Für jedes Ei, das du nicht kaufst, werden 0,91 Eier weniger produziert (Fleisch liegt bei 0,5 – 0,7). Verbreitet ist ja oft die Ansicht, dass ich als Einzelner eh nichts ändern kann. Der Effektive Altruismus belehrt mich eines Besseren. Ich empfehle sehr, „Doing Good Better“ zu lesen, es gibt auch eine deutsche Übersetzung. Wohltuend: Ein Sechstel des Buchs sind Quellenangaben zu den Statistiken und Studien. Erfrischend, wenn nicht einfach Dinge behauptet, sondern auch belegt werden.

Dass ich gepledgt habe, sage ich übrigens nicht, weil ich weitere liebevolle Reaktionen bekommen möchte, sondern damit du es mir nachtust. Wenn ein Künstler in der Corona-Krise spenden kann (und dann halt nicht mehr zu den reichsten 5% gehört, sondern nur noch zu den reichsten 7%), dann kannst es auch du. (Es gibt auch für Student:innen, Rentner:innen und Erwerbslose Varianten des Pledges.) Aber vielleicht bin ich auch nur beseelt von den ganzen Meditationen des Jahres und der Erkenntnis, wie wenig Materielles ich brauche, um glücklich zu sein. Ich habe mehr als genug, ich lebe in Fülle, also fick dich, neues iPhone. Lieber mehr geben.

Was gibt es sonst Neues?

– Letzte Woche, am 24.07., war der 100. Todestag von Ludwig Ganghofer. Die Monacensia in München hat mich zu diesem Anlass gebeten, einen Text über ihn zu schreiben. Wir sind mit den Stützen der Gesellschaft ab und zu an diesem schönen Ort zu Gast, und als Ersatz für die ausgefallene Show Anfang Juli gab es nun einen Text von mir. Ich habe lange gebraucht, um einen Zugang zu Ganghofer zu finden, am Ende ist einer der für mich schönsten Texte der letzten Jahre herausgekommen. Ihr könnt ihn hier anschauen.

– Ein bisschen früher, nämlich Anfang Juli, ist ein Buch mit Schwimmgeschichten erschienen, zu dem ich meinen Text „Jetzt musst du springen“ beisteuern durfte. Jens Spahn und Winfried Kretschmann und mein lieber Bühnenfreund Jean-Philippe Kindler haben auch etwas geschrieben, zudem unzählige Kinder. Das Buch wurde initiiert vom ehrenamtlichen Tübinger Projekt „Schwimmen für alle Kinder“, das Mut machen soll und den Fokus auf sicheres Schwimmen lernen legt. Unterstützenswertes Engagement, persönliche Geschichten. Das Buch „Meine Schwimmgeschichte“ gibt es direkt bei der Verlagsgruppe Patmos und natürlich im Buchhandel.

– Apropos Bücher: Mein Verlag schrieb vor Kurzem, dass die Lage durch die momentane Situation keine schöne sei, da er vor allem Bücher verlegt, die bei Live-Shows
verkauft werden, bei Poetry Slams oder Lesebühnen. Nun habe ich zwar heute Abend mal wieder einen Auftritt (Open Air Slam im Olympiapark in München), aber Büchertische sind zur Zeit ein schwieriges Unterfangen und die Ausnahme. Solltest du also eines meiner Bücher noch nicht besitzen – ja, ich meine dich, Onkel Christian! – dann überleg gerne, ob du das ändern möchtest. Die Reiseerzählung aus Rom eignet sich besonders für den Sommer, aber auch das neue Buch „Was ich ihr nicht schreibe“ ist weiterhin gut. Bestellbar sind die Bücher direkt beim Satyr-Verlag, oder noch direkter per Mail bei mir. Ich bin allerdings, um ganz fair zu sein, nicht überzeugt davon, dass das die effektivste Art ist, 11-14 Euro zu spenden 😉

Kunst, die ich in den letzten Wochen gut fand:

– „Kommt her ihr Heinis ich will euch trösten“ von Riccarda Kiel, einer Leipziker Lyrikerin und Designerin. Ich habe es zum Geburtstag geschenkt bekommen von meinem guten Freund Tristan Marquardt, seines Zeichens auch Lyriker („Scrollen in Tiefsee“). Er hat das Buch selbst gedruckt und geschnitten, denn er ist für den Münchner Ableger des hochroth-Verlags mitverantwortlich. Einmal habe ich ihm beim Bücher machen geholfen, das ist schon ein tolles Gefühl. Riccardas Lyrik jedenfalls: ganz, ganz toll. Mit Witz und Tiefgang und einem unaufdringlichen Rhythmus. Es ist für mich genau der richtige Grad an Abstraktion, dass ich es nicht verstehe, aber auch nicht nicht verstehe, weil die Stimmung mich mitnimmt. „Ich schnitze dir eine Fabrik. / Wir nennen sie Rostblau & Partner. / Du kannst jeden Morgen hin. / Du bekommst einen Pförtner / mit Altersflecken / und einen eigenen Bahnhof, / an dem sonntags die Kinder / an ihren Zigaretten ziehen.“
Für 8 Euro bei hochroth München.

– „How Democracies Die“ von Steven Levitsky und Daniel Zieblatt behandelt die Frage, was historisch gesehen passiert, wenn eine Demokratie untergeht. Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, wie geht das Ganze vor sich? An welchen Zeichen kann man das erkennen? Spannende Abhandlung mit Blick auf die USA. Kleiner Spoiler: Militär im Inneren einsetzen und Wahlen nicht anerkennen gehört dazu. Auch hier: ein großer Anhang.

– „Homework for Life“, eine Storytelling-Übung, die ich seit einem guten Jahr jeden Abend mache. Ich nehme mir abends fünf Minuten Zeit und frage mich: Was war der „most storyworthy“ Moment des Tages? Was hat diesen Tag von allen anderen unterschieden? Das Ganze notiere ich in wenigen Stichpunkten, Dialogen, Halbsätzen in einer Excel-Tabelle. Links das Datum, rechts der Moment, mehr nicht. Mit der Zeit entwickelt sich ein Auge für Geschichten, wo du sie früher nicht gesehen hast. Und ich habe jetzt ein Dokument mit 500 Einträgen von jedem Tag seit Mitte Juli 2019. Ich werde nie wieder nach Stoffen für Geschichten suchen müssen, und selbst wenn ich keinen Moment jemals erzähle, habe ich ihn doch vor dem Vergessen bewahrt. Die Übung hat meine Zeit verlangsamt, weil die Tage nicht mehr vorbeirauschen, weil ich mich mit den Tagen beschäftige, und sie hat mich sehr bereichert.
Das Prinzip geht auf Matthew Dicks zurück, einen Storyteller und Podcaster aus Connecticut, und dieser TED-Talk von ihm wird dich eher dafür begeistern als mein vorheriger Absatz.

– Meine drei Lieblingslieder der letzten Wochen: „Transvestites Can Be Cannibals Too“, „Immer noch Liebe in mir“ und „All My Happiness Is Gone“, zu dem ich immer durch die Küche tanze. Seit letzter Woche ist auch „Truth Doesn’t Live in a Book“ vorne dabei, aber das darf ich jetzt nicht zu laut sagen, weil ich dir lauter Bücher empfohlen habe. Meine Playlist für den Sommer 2020 gibt es hier.

Special Treat des Monats:
(nur verfügbar für Menschen, die den Newsletter abonniert haben)

Ich hätte nicht gedacht, dass ich in dem Jahr, in dem ich den Plänen und Listen in meinem Kopf endlich Einhalt gebiete, ein Buch mit Plänen und Listen empfehlen würde. Vielleicht ist das aber auch der Fortschritt: Ich darf das mit den Statistiken und Datenanalysen jetzt Menschen überlassen, die es beruflich machen. Für all die vielen Lebenspläne und Finanzlisten habe ich nämlich nie etwas bekommen, außer psychischen Schwierigkeiten.

Bis du dieses Monstrum von einer Nachricht durchgearbeitet hast, hat sich der Sommerregen wahrscheinlich in Herbstregen verwandelt. Das ist okay. Nimm dir Zeit, nicht nur für mein Geschreibe, sondern vor allem für dich. Zeit ist eine Entscheidung, eine Sache der Priorisierung. Und immer dann, wenn wir sagen, dass wir keine haben, brauchen wir sie am Dringensten für uns. Zum Beispiel in Stille in der Natur, oder in einer Meditation. Self-love – I cannot recommend it enough.

Hab einen wunderschönen Sommer, wo und wie auch immer du ihn verbringst. Ich denke an dich und freue mich über eine Antwort und deine Erfahrung mit all dem, was ich dir entgegengeworfen habe – und deine Erfahrung mit dir.

Alles Liebe
Alex

Newsletter #6 – Der Gott der Nachsicht

Liebe:r Abstandhaltende:r,

gerade saß ich in einer geführten Meditation und sollte mir einen Ort vorstellen, an dem ich mich sicher und geborgen fühle, an dem nichts von mir erwartet wird. Dort durfte ich mir die Frage stellen: Wer bin ich? Was wünsche ich mir? Was soll ich in die Welt bringen? Heavy stuff, ich sag es dir. Es ging mehr um die Fragen als um die Antworten, und weil diese Fragen mich die letzte Zeit durchaus beschäftigen, möchte ich sie heute mit dir teilen.

Wer bin ich? Alles, was dazu in Meditationen aus meinem Herz kommt, sind zwischenmenschliche Dinge. Ein Partner. Ein Wärmender. Ein großer Bruder, das fand ich besonders schön. Es war selten etwas Berufliches dabei, was in diesem Jahr sehr passend scheint. Was ich nicht bin, weiß ich nämlich: ein Kabarettist, ein Romanautor, jemand, der zu hundert Prozent von seiner Kunst lebt. All das habe ich in den letzten Jahren versucht, all das hat sich nie ganz richtig angefühlt. Es fällt mir schwer, mich nicht über meinen Beruf zu definieren als jemand, der seit dreizehn Jahren auf der Bühne steht. Es ist ein cooler Beruf, ein Rampenlichtberuf. In den letzten Wochen und Monaten haben mir viele Menschen – auch ihr! – gezeigt, dass an mir ziemlich viel spannender und schöner ist, als mein Job. Danke dafür.

Was wünsche ich mir? Haus mit Garten und Stadtwohnung. Kinder und Ungebundenheit. Garten und Bibliothek. Menschliche Nähe und Abgeschiedenheit. Trubel und Ruhe. Dass alle meine Geschichten toll finden und dass ich meine Geschichten nicht mehr verkaufen muss.

Was soll ich in die Welt bringen? Liebe, Geschichten, Nachsicht. Tja, wird es nichts mit nur für mich schreiben. Du wirst meine Geschichten weiterhin hören und lesen müssen. Liebe und Nachsicht habe ich auch durch mein Schreiben oft versucht zu vermitteln. Ich bin gespannt, wie ich das in Zukunft machen werde. Momentan liegen Masseur / Körpertherapeut / Yogalehrer und Coach / Therapeut recht weit vorne. Alex Burkhard: Autor, Coach, Masseur. Was für ein Oeuvre. Mal schauen, wo mich die Reise hinführt. Ich bin jedenfalls recht sicher, dass ich nicht mehr so viel alleine schreibend und mehr im Austausch mit / im Service für Menschen arbeiten möchte. Wäre ja langweilig, nur einen Job zu haben …

Eine Freundin fragte vor einigen Tagen, was ich für ein Gott wäre, wenn ich ein Gott wäre, und ich sagte: Der Gott der Nachsicht. Keine Ahnung, wo das herkam. Aber bis vor einiger Zeit habe ich allen gegenüber Nachsicht praktiziert und meine Bedürfnisse dabei komplett vernachlässigt. Seit einiger Zeit lerne ich Nachsicht gegenüber mir selbst, und mit etwas Glück ist die irgendwann so gefestigt, dass ich ganz natürlich anderen helfen kann, nachsichtig mit sich zu sein, auf welchem Weg auch immer. Das finde ich ein sehr schönes Ziel.

So, und nach all der Spiritualität kommen jetzt ein paar handfeste News im Newsletter:

– Die Bühnen bleiben noch für einige Zeit geschlossen. Auch mit Hauslesungen ist es weiterhin schwierig. Ich biete deshalb an, eine private Online-Lesung über ein Format deiner Wahl zu machen, für dich und deine Freund:innen oder Kolleg:innen oder Familie. Ich finde, wenn meine Gruppentherapie über Zoom stattfinden kann, dann können sich auch einige Menschen im Namen der Literatur versammeln. Ich lese so viele Texte, wie ihr möchtet und – öffne nicht die Büchse, Alex – welche ihr möchtet, und anschließend und zwischendrin unterhalten wir uns alle. Ich freue mich, neue Menschen kennenzulernen und mit bekannten Menschen zu sprechen. Sag mir einfach Bescheid, wenn du Interesse hast. Es kostet nichts (vielleicht biete ich einen PayPal-Link an, der freiwillig angeklickt werden kann) außer der Zeit, die du brauchst, um Menschen einzuladen und das Meeting zu hosten.

– Auf Spotify gibt es zwei aufregende Neuerungen: Das Hörbuch zu „Was ich ihr nicht schreibe“ ist jetzt nicht mehr mit gefühlt 832 Tracks zu je 4 Sekunden online, sondern sinnvoll. Ein Text = ein Track, entsprechend benannt. Du kannst jetzt also gezielt nach Texten schauen und sie anhören. Außerdem gibt es „The Bookstore Is Closed“, die EP meiner Band The Baby and the Dog, jetzt auch auf Spotify (und auf Apple Music und Amazon Musik und TikTok und wo du willst). Wenn dir die Lieder gefallen, baue sie gerne in möglichst viele Playlists ein, damit der Algorithmus sagt: Oh my, I should rather spread this shit.

– Ich habe die viele Zeit unter anderem dafür genutzt, alle Gedichte, die ich jemals für die Gäste meiner und Pierre Jarawans Show „Stadt, Land, Fluss“ geschrieben habe, auf meine Homepage zu stellen. Du findest dort 48 Gedichte für Kolleg:innen sowie den Eröffnungs- und den Schlusstext der Show. Und viele Mehrfachreime. Enjoy!

Kunst, die mir zuletzt gefallen hat:

– Die Songwriterin Dota hat ein Album aufgenommen, in dem sie Gedichte von Mascha Kaléko vertont, teilweise mit tollen Partner:innen (z.B. Hannes Wader, Alin Coen, Konstantin Wecker). Meine Mitbewohnerin hat es mir eines morgens gezeigt, und seitdem kann ich nicht mehr aufhören, zu lauschen. „Für einen“ ist eines meiner Lieblingslieder des Frühlings geworden. Dota – Kaléko. Lausche auch du!

– Bereits erwähnter Freund und Kollege Pierre Jarawan hat einen neuen Roman geschrieben und sich Anfang März als Veröffentlichungstermin ausgesucht. Rückblickend mittelsinnvoll. Der Roman jedoch: hat mir sehr gut gefallen, um ehrlich zu sein sogar besser als sein mittlerweile vielfach ausgezeichnetes und übersetzter Vorgänger „Am Ende bleiben die Zedern“. Ich habe für meine Buchhandlung eine Rezension geschrieben, die ein bisschen unsinnig geraten ist, aber sehr bewundernd gemeint. Pierre Jarawan – Ein Lied für die Vermissten. Lies auch du! 🙂

– Bereits erwähnte Mitbewohnerin ist Caroline Antonetty, die seit knapp dreißig Jahren eine Lederwerkstatt in der Klenzestraße hat. Nun lebe ich größtenteils vegan, aber täte ich das nicht, und das trifft auf dich vielleicht zu, dann würde ich mich exklusiv bei ihr einkleiden und accessoiren. Sie hat einen sehr tollen und eigenen Stil, und alles ist handgearbeitet. Wegen Corona musste auch sie einige Zeit zusperren und hat deshalb ihr Angebot komplett online gestellt. Ich nenne sie stellvertretend für alle Einzelhändler:innen, alle kleinen Geschäfte, Cafés und Restaurants, die unsere Städte lebenswert machen. Lokal kaufen hält die Stadt lebendig. Antonetty Lederwerkstatt. Schaue auch du!

Special Treat des Monats:
(nur verfügbar für Menschen, die den Newsletter abonniert haben)

Ich wünsche dir alles Liebe für die aktuelle Zeit. Sei nachsichtig mit dir, wenn dir das möglich ist. Und vielleicht sehen wir uns ja bald schon online – ich habe Zeit und würde mich freuen! Ansonsten lesen wir uns im nächsten Newsletter, wenn ich vielleicht schon Masseur bin oder Astronaut oder Feuerwehrmann. Und du?

Einen wunderschönen Tag dir!
Dein Alex