Newsletter #8 – Mein größtes Vorbild

Liebe – wie hätte Bastian Pastewka als Brisko Schneider in der Wochenshow gesagt – Liebende!

Ich möchte in dieser Ausgabe des Newsletters über Vorbilder sprechen. Ich hatte in meinem Leben einige: meinen Grundschullehrer Herr Pickenhan, der auch im Alter noch fit war; José Mourinho, der als Nicht-Profi Fußballtrainer geworden ist; unzählige Schriftsteller:innen, die mich selbst einer werden wollen ließen; Frank Klötgen wegen seiner Reime und Neologismen; meine Freundin Franzi, die ich für Ihre Art bewundere, mit Menschen umzugehen. Mein größtes Vorbild seit gut einem Jahr: meine jüngere Schwester Kathi.

Vergangenes Wochenende war unser 7-jähriger Neffe bei ihr in München zu Gast, und obwohl das ganze Wochenende veranschlagt war, wollte er am Samstagabend wieder nach Hause. Sie riefen meine noch jüngere Schwester Tami an, die gerade staubsaugte. Was man halt so macht, wenn das Kind mal nicht daheim ist. „Wenn du in 10 Minuten immer noch willst, fahre ich los“, sagte sie. Er wollte. Am nächsten Tag spielten Kathi und ich am Johannisplatz Tischtennis, wie wir das seit ein paar Monaten häufig tun. Während sie mir die Bälle um die Ohren haute, erzählte sie, dass sie erst um drei Uhr morgens einschlafen konnte. Was sie bis dahin gemacht hatte: geordnet. Unser Neffe war in München überfordert von dem Input, den er von ihr und der Stadt bekam. Während ich (beim Versuch, einen ihrer Schmetterbälle zu bekommen) gegen einen Baum krachte, sagte sie: „Er brauchte ein Gefühl von Zu Hause, sein Zimmer, seine Dinge, die er kennt.“ Und wenn zur Ruhe kommen für ihn bedeutet, dass er auch mal vor der PlayStation sitzt, then who the hell cares. Kathi hat unseren Neffen die ersten Jahre mit erzogen, weil sie damals im Allgäu gewohnt hat. Er ist sehr sensibel, und die beiden haben ein besonderes Verhältnis. Als Tami ihn holte, so erfuhr ich, während mein Return im Netz landete, fragte er, wann sie wieder ins Allgäu ziehe. Was sie aus all dem mitgenommen hat: Es lag nicht an ihr.

Wir alle sind schnell dabei, Dinge persönlich zu nehmen, die Reaktionen anderer Menschen auf uns zu beziehen. Kathi, die sich wie ich sehr mit dem Thema Selbstliebe beschäftigt, hat am Samstag in ein paar Stunden geschafft, wofür ich oft länger brauche. Manchmal schaffe ich es gar nicht. Sie hat durch Meditation, durch liebevolles Umgehen mit sich einen Trigger aufgelöst. Sie hätte den Wunsch unseres Neffen leicht persönlich nehmen können; sie hatte viel geplant für das Wochenende, sie hatte sich wochenlang auf die Zeit mit ihm gefreut. Aber sie ist wahnsinnig toll mit ihm und seinen Bedürfnissen umgegangen, und mindestens genauso gut mit sich und ihren Gefühlen, die das Ganze hervorgerufen hat. Für dich ist das möglicherweise gar keine großes Thema, aber ich war sehr beeindruckt von ihr.

Später holten wir uns einen Kaffee (sie) und ein Eis (ich) und saßen noch etwas in der Herbstsonne. Sie ärgerte sich, dass sie keinen Recup mitgenommen hatte, um sich den Kaffee einfüllen zu lassen. Es war ihr zweiter Einwegbecher in diesem Jahr. „Zwei zu viel“, sagte sie. Mit einer Freundin habe ich die 80%-Regel. Wenn jeder 80% der Zeit Gutes tut (aus unserer Sicht Gutes, zum Beispiel 80% der Zeit vegan leben, in 80% der Fälle nachsichtig mit Mitmenschen umgeht, 80% der Zeit dem Drang widersteht, bei Amazon zu bestellen), dann wäre die Welt sehr viel besser. Vorbildfunktion haben Menschen für mich immer dann, wenn ich mich mit ihnen verbunden fühle, wenn sie nahbar sind, wenn sie sich Mühe geben, aber auch Fehler haben. Franzi schafft es auch nicht immer, liebevoll mit sich und anderen umzugehen, aber wenn ich schätzen müsste, wie oft, würde ich sagen: 80% der Zeit. Frank Klötgens Megareime feiere ich in ca. 80% der Fälle, ich mag, grob geschätzt, 4 von 5 Sätzen in meinen Lieblingsbüchern, und José Mourinho gewinnt nicht mal ansatzweise 80% seiner Spiele, und wird von weit weniger seiner Spieler gemocht. Nur Herr Pickenhan, über den weiß ich nichts Negatives zu sagen.

Der Punkt, den ich seit ein paar Zeilen, und auch vergangenen Sonntag, machen möchte, ist der Folgende: Ich schaue eher zu jemandem auf, der oder die mir in 80% der Fälle ihre Ideale, Einstellungen, Ideen vorlebt, und in den restlichen Fällen nachsichtig mit sich umgeht im Wissen, dass niemand perfekt ist, als zu jemandem, der oder die Ersteres zwar in 95% der Fälle schafft, sich aber für die verbleibenden 5% komplett fertig macht und verkrampft an einem Ideal festhält. Es bringt ja nichts, sich vorzunehmen, nicht so perfektionistisch zu sein, und sich dann zu ärgern, dass man das nicht perfekt hinkriegt. Das sage ich aus leidvoller Erfahrung.

Kathi sieht mich übrigens auch als Vorbild. Das hat mit meiner Rolle als großer Bruder zu tun, aber auch damit, dass ich dieses Jahr sehr viel Zeit investiert habe, loszulassen. Wie oft ich das nicht schaffe? Ungefähr jedes fünfte Mal. Aber das ist okay.

Handfeste News:

– Am kommenden Samstag, den 10.10., gibt es tatsächlich mal wieder einen Auftritt. Die Stützen der Gesellschaft geben sich die Ehre in Lindenberg im Allgäu. Ich habe Fee seit Februar nicht gesehen, und ich fürchte, ich werde sie umarmen müssen. Frank und Sven begrüße ich aus der Ferne. Ach, das wird toll. Und weil auch viele Freiburger:innen im Newsletter mit dabei sind: 03.12., die Stützen im Vorderhaus.
Alle Termine (auch einer in München, mit Teilen des BR-Kammerorchesters) gibt es hier.

– Der Herbst ist da.

– Ich bin jetzt auch offiziell nicht mehr Rottweiler Stadtschreiber. Vor zwei Wochen habe ich mein Amt übergeben. Ich habe mich dermaßen gefreut, für die Zeremonie noch mal nach Rottweil zu fahren! Das ist in den drei Monaten dort ein besonderer Ort für mich geworden. Was ich meinem Nachfolger mit auf den Weg gegeben habe, kannst du hier nachlesen.

Kunst, die ich zuletzt gut fand:

– Eine Freundin hat mich ein bisschen in die Fantasy hineingelockt, und besonders gefallen hat mir The Amulet of Samarkand, der erste Teil der Bartimaeus-Trilogie. Als Kind konnte ich nichts anfangen mit diesen fremden Welten, jetzt lerne ich sie spät, aber sehr gerne schätzen. Vor allem der Tonfall in diesen Romanen taugt mir extrem: umgangssprachlich und doch literarisch, persönlich und doch ironisch. Es ist ein bisschen her, dass ich ein Buch nur aus Spaß an der Freude gelesen habe, „nur“ aus Unterhaltungsgründen. Tat mal wieder gut.
Weitere großartige Bücher meiner Sommerlektüreliste: Unrast von Olga Tokarczuk, GRM von Sibylle Berg und Americanah von Chimamanda Ngozi Adichie.

– Besagte Freundin hat mir auch Stardew Valley gezeigt, ein Computerspiel, bei dem man zu Beginn seinen Bürojob hinschmeißt, um auf der Farm seines Opas neu anzufangen. Man baut Gemüse an, lernt die Dorbewohner:innen kennen, man gießt sehr viel, angelt, geht in die Mine und entdeckt die liebevoll gestaltete Welt. Jede:r Mitmensch dort hat eine Story, die man nach und nach mitbekommt, und alles ist wahnsinnig integrativ. Es gibt eine riesige Community, Fan-Comics aus aller Welt, ein Wiki, das volle Programm. Ich habe mich immer geschämt, Zeit mit Computerspielen zu verbringen, weil ich dachte: da kann ich auch was Sinnvolles machen. Das stimmt. Aber ich darf auch mal ein paar Stunden am Computer sitzen. Wenn ich Kinder hätte, die natürlich ohne Handy, Fernseher und Zucker aufwüchsen, – wenn ich also Kinder hätte: Stardew Valley dürften sie spielen. Und ich stünde hinter ihnen und würde die Welt feiern, die sie da entdecken.

– Mein momentanes Lieblingslied ist „No Hell“ von Cloud Cult. Selten Lyrics so sehr geliebt, selten die Musik dazu so selbstvergessen gehört. Ist auch auf meiner Herbstplaylist auf Spotify, die ich in den letzten Wochen ungefähr 80% der Zeit laufen habe.

Special Treat des Monats:
(nur verfügbar für Menschen, die den Newsletter abonniert haben)

Danke fürs Lesen. Wie immer freue ich mich, dass du meine Gedanken spannend genug findest, um ihnen ein wenig deiner Zeit zu schenken. Ich habe in den letzten Monaten viel Feedback von dieser Newsletter-Community bekommen und freue mich weiterhin über jede Mail, die mich erreicht, auch wenn ich nicht immer sofort antworte.

Und wenn dir heute beim Arbeiten jemand blöd kommt, denk daran: Es hat nichts mit dir zu tun. Da sind Bedürfnisse und Trigger bei der anderen Person, die sie nicht sieht oder sehen will. Das heißt nicht, dass es okay ist, wenn dir jemand blöd kommt, aber es sagt rein gar nichts über dich als Menschen aus. Du bist perfekt, wie du bist. In 100% der Fälle. Und du bist für viele Menschen ein Vorbild, selbst wenn du dich selbst nicht immer als solches wahrnimmst.

Namasté. (Haha, du dachtest nicht, dass ich am Ende so dick auftrage, oder? Gerade deshalb!)
Dein Alex