Newsletter #9 – Dichter:innen und Denker:innen

Ladies and Genderfans,

meine Freundin Fee und ich schreiben uns seit Jahren Nachrichten aus dem Zug mit Dingen, die wir verstehen, wenn die Begleiter:innen „Ladies and Gentlemen“ sagen. Ladies and Champions, Ladies and Schelme. Ladies and Jennifer. Es ist ein großer Spaß. Ist mir nur gerade eingefallen, als ich den Betreff genderte.

Fee und ich haben uns zuletzt Mitte Oktober gesehen, als entgegen aller Wahrscheinlichkeiten unsere Lesebühne „Die Stützen der Gesellschaft“ stattfinden konnte. In meiner Heimatstadt Lindenberg. Alle im Publikum trugen Maske, saßen auseinander, niemand sang bei Franks „Gefühlter Übersetzung“ mit, und wir mussten das Mikro desinfizieren, wenn wir dran waren. Und trotzdem hatten wir Tränen in den Augen während der Show und danach, weil wir uns so gefreut haben, endlich mal wieder (zuletzt im Februar) zusammen auftreten zu dürfen. Am Ende wurde Sven sehr emotional und nahm das Publikum in die Pflicht, der Kultur beizustehen in diesen Zeiten. Wir hätten uns alle hart erarbeitet, von unserer Kunst leben zu können, und die momentanen Vorschriften gingen vielen an die Existenz. Es sei mehr als ein bisschen vorlesen. Unsere Leben hingen daran, dass wir diese Phase überstünden. Ein Lockdown in dieser Form käme einem Berufsverbot gleich, für alle vor und hinter und auf den Bühnen des Landes. Er sagte noch mehr, und er sagte es schöner, vor allem, weil seine Stimme so schön tief ist.

Ich war kurz irritiert, denn es war meine Heimat, und hier stand dieser erfahrene, whiskytiefe Philosoph, der mir so oft ein Vorbild war, und bat Menschen, die mich kennen, darum, doch bitteschön ordentlich Bücher zu kaufen und andere Dinge zu unternehmen, damit wir und damit die Kunst all das überleben. Was sollen die Leute denken, erinnerte ich mich an einen Buchtitel von Jess Jochimsen. Doch dann war ich stolz, weil Sven formulierte, was ich oft gedacht, aber nicht ausgesprochen hatte. Während des Lockdowns kommst du mal wieder zum Lesen? Kunst. Eine Serie schauen? Kunst. Netflix, die Lieblingsmusik, Brettspiele? Die Kunst hilft jeder und jedem von uns, den Verstand nicht zu verlieren in dieser Zeit, da dies so wahnsinnig leicht ist.

Neulich stand ich in Balingen, wo die DB-Busse („Ladies und Schämen“) alle zwei Stunden fahren, und während des Wartens sah ich ungefähr 50 Schüler:innen sich über Minuten am Bahnsteig auf den Bus warten, während sie sich anschrien, schubsten, umarmten. Keine Masken, nichts. Ich mache ihnen keinen Vorwurf. Wenn ich den ganzen Tag in der Schule Maske tragen müsste, würde ich auch jede Gelegenheit nutzen, sie mir vom Gesicht zu ziehen. Ich mache noch nicht mal denjenigen einen Vorwurf, die all das entscheiden müssen, denn in ihrer Haut möchte ich nicht stecken. Doch egal, wie das Virus jetzt mit Jugendlichen verfährt, finde ich es absurd, Schulen mit mehreren Hundert Schüler:innen offen zu lassen (ja, ich weiß, sonst könnten deren Eltern dem Staat keine Arbeitskraft liefern und, wichtiger, viele Eltern sind darauf angewiesen, dass ihre Kids in der Schule Mittagessen, etc.), während Kulturveranstaltungen mit extremen hygienischen Auflagen dicht machen müssen.

Eine Lösung für die momentane Situation habe ich nicht, und halte mich an die Regeln. Doch Sven hatte Recht: Sie treffen die Kulturbranche unverhältnismäßig hart. Wie meine Freunde Max und Jonas aka Das Lumpenpack (schau dir ihr neues Video an!) singen: „Hilfe für die Lufthansa, Mitleid für die Kunst.“ Deshalb auch hier noch mal der Aufruf: Ein ganzen Jahr seinen Beruf nur eingeschränkt oder nicht ausüben zu können, geht an niemandem spurlos vorbei. Ob finanziell oder psychisch. Wir sind nicht die Einzigen, das ist klar, und ich selbst kam recht glimpflich durch das Jahr. Aber viele meiner Kolleg:innen genauso wie Bekannte aus der Veranstaltungsszene kommen an ihr Limit. Die Bitte ist einfach: Vergiss uns nicht. Und damit meine ich nicht Netflix und Amazon Prime. Ich meine diejenigen, die deine Stadt, dein Umfeld, deinen Alltag und dein seltsames Jahr begleiten mit ihrem Schaffen. Support your local artists as much as you can.

News:

– Morgen beginnt die Bayerische Akademie des Schreibens. Ich hatte die letzten beiden Male vollkommen vergessen, dir zu sagen, dass ich für das diesjährige Seminar angenommen wurde. Bedeutet 3×5 Tage Blockseminar, und am Ende hoffentlich eine schöne Version eines Romans. Veranstaltet vom Literaturhaus München und dieses Jahr hauptsächlich über Zoom begleiten eine Autorin und ein Lektor neun Schriftsteller:innen bei der Arbeit. Und ich mittendrin. Juhu!

– Ich habe einen Text geschrieben, weil der Sponsor des Kemptener Slams, die AÜW, 100 Jahre alt wird. Sie wollten deshalb von mir etwas zum Thema Energie, und ich habe mir viel Mühe gegeben und schließlich diesen Text hier über mich als Energy-Man geschrieben. Enjoy!

– Mein lieber Verlag, der Satyr Verlag Berlin, ist von der Pandemie besonders betroffen, da er etwa ein Drittel seines Umsatzes mit dem Verkauf bei Live-Veranstaltungen macht. Solltest du ein Weihnachtsgeschenk für jemand Liebes brauchen oder dich selbst etwas im Sortiment umschauen wollen, freut Volker sich. Du bekommst dort alle meine bisher erschienenen Bücher. Davon werde ich persönlich zwar nicht reich, aber wie gesagt: Ich komme gut durch. Jetzt geht es erst einmal um die Anderen. Ich möchte auch in ein oder zwei Jahren noch in einer Welt mit Verlagen, Buchhandlungen, Gastronomie und Konzerten leben.

– Und jetzt die Belohnung für so viel Engagement deinerseits: Ich habe im Oktober und November sehr viele Gedichte geschrieben, und grob überschlagen reichen sie aus, um einen Adventskalender damit zu machen. Auf meiner Website unter alexburkhard.de/archiv/blog gibt es ab 01.12. jeden Tag ein Gedicht für dich. Und manche sind wirklich gut!

Kunst, die ich in den letzten Wochen mochte:

– Meine Gedichte. Hihi.

– Den Instagram-Kanal von @feliciachiao

La casa de papel auf Netflix. Die ersten beiden Staffeln haben mich richtig gepackt. Ist immer schön, wenn Figuren nicht als gut oder schlecht dargestellt werden, sondern sämtlich eine Story haben. Für jede Staffel habe ich zwei Bücher in der Buchhandlung gekauft. Das nur so als Orientierung :-*

Special Treat des Monats:
(nur verfügbar für Menschen, die den Newsletter abonniert haben)

Den Betreff des Newsletters habe ich vor dem Rest geschrieben. Er suggeriert eine intensive Beschäftigung mit gegenderter Sprache in Deutschland und ob sie in der Literatur funktioniert. Das war dann heute gar nicht das Thema, aber wichtig wäre es trotzdem. Gendern ist wichtig, weil Sprache unsere Wahrnehmung prägt. Und so lange in diesem Land keine faktische Gleichberechtigung herrscht, sollten wir diesen Weg gehen. Wenn ich auch im Roman nicht immer mit :innen gendern werden kann, so versuche ich es doch, und wo es nicht geht, nehme ich einfach abwechselnd die weibliche und die männliche Form. Auch wenn weibliche und männliche Form auch nur gesellschaftliche Konstrukte usw. Das als kleiner Exkurs am Ende. Weil viel unterging in diesem verrückten Jahr.

Ich wünsche dir eine schöne Vorweihnachtszeit und viel Spaß mit meinem Adventskalender. Gute Rauhnächte auch, die haben letztes Jahr ihre Magie bei mir voll entfaltet. Ich wünsche dir Liebe und dass du siehst und gesehen wirst. Vor allem wünsche ich dir Gesundheit. Du darfst stolz darauf sein, was du bis hierher geleistet hast.

Alles Liebe
Alex

Newsletter #6 – Der Gott der Nachsicht

Liebe:r Abstandhaltende:r,

gerade saß ich in einer geführten Meditation und sollte mir einen Ort vorstellen, an dem ich mich sicher und geborgen fühle, an dem nichts von mir erwartet wird. Dort durfte ich mir die Frage stellen: Wer bin ich? Was wünsche ich mir? Was soll ich in die Welt bringen? Heavy stuff, ich sag es dir. Es ging mehr um die Fragen als um die Antworten, und weil diese Fragen mich die letzte Zeit durchaus beschäftigen, möchte ich sie heute mit dir teilen.

Wer bin ich? Alles, was dazu in Meditationen aus meinem Herz kommt, sind zwischenmenschliche Dinge. Ein Partner. Ein Wärmender. Ein großer Bruder, das fand ich besonders schön. Es war selten etwas Berufliches dabei, was in diesem Jahr sehr passend scheint. Was ich nicht bin, weiß ich nämlich: ein Kabarettist, ein Romanautor, jemand, der zu hundert Prozent von seiner Kunst lebt. All das habe ich in den letzten Jahren versucht, all das hat sich nie ganz richtig angefühlt. Es fällt mir schwer, mich nicht über meinen Beruf zu definieren als jemand, der seit dreizehn Jahren auf der Bühne steht. Es ist ein cooler Beruf, ein Rampenlichtberuf. In den letzten Wochen und Monaten haben mir viele Menschen – auch ihr! – gezeigt, dass an mir ziemlich viel spannender und schöner ist, als mein Job. Danke dafür.

Was wünsche ich mir? Haus mit Garten und Stadtwohnung. Kinder und Ungebundenheit. Garten und Bibliothek. Menschliche Nähe und Abgeschiedenheit. Trubel und Ruhe. Dass alle meine Geschichten toll finden und dass ich meine Geschichten nicht mehr verkaufen muss.

Was soll ich in die Welt bringen? Liebe, Geschichten, Nachsicht. Tja, wird es nichts mit nur für mich schreiben. Du wirst meine Geschichten weiterhin hören und lesen müssen. Liebe und Nachsicht habe ich auch durch mein Schreiben oft versucht zu vermitteln. Ich bin gespannt, wie ich das in Zukunft machen werde. Momentan liegen Masseur / Körpertherapeut / Yogalehrer und Coach / Therapeut recht weit vorne. Alex Burkhard: Autor, Coach, Masseur. Was für ein Oeuvre. Mal schauen, wo mich die Reise hinführt. Ich bin jedenfalls recht sicher, dass ich nicht mehr so viel alleine schreibend und mehr im Austausch mit / im Service für Menschen arbeiten möchte. Wäre ja langweilig, nur einen Job zu haben …

Eine Freundin fragte vor einigen Tagen, was ich für ein Gott wäre, wenn ich ein Gott wäre, und ich sagte: Der Gott der Nachsicht. Keine Ahnung, wo das herkam. Aber bis vor einiger Zeit habe ich allen gegenüber Nachsicht praktiziert und meine Bedürfnisse dabei komplett vernachlässigt. Seit einiger Zeit lerne ich Nachsicht gegenüber mir selbst, und mit etwas Glück ist die irgendwann so gefestigt, dass ich ganz natürlich anderen helfen kann, nachsichtig mit sich zu sein, auf welchem Weg auch immer. Das finde ich ein sehr schönes Ziel.

So, und nach all der Spiritualität kommen jetzt ein paar handfeste News im Newsletter:

– Die Bühnen bleiben noch für einige Zeit geschlossen. Auch mit Hauslesungen ist es weiterhin schwierig. Ich biete deshalb an, eine private Online-Lesung über ein Format deiner Wahl zu machen, für dich und deine Freund:innen oder Kolleg:innen oder Familie. Ich finde, wenn meine Gruppentherapie über Zoom stattfinden kann, dann können sich auch einige Menschen im Namen der Literatur versammeln. Ich lese so viele Texte, wie ihr möchtet und – öffne nicht die Büchse, Alex – welche ihr möchtet, und anschließend und zwischendrin unterhalten wir uns alle. Ich freue mich, neue Menschen kennenzulernen und mit bekannten Menschen zu sprechen. Sag mir einfach Bescheid, wenn du Interesse hast. Es kostet nichts (vielleicht biete ich einen PayPal-Link an, der freiwillig angeklickt werden kann) außer der Zeit, die du brauchst, um Menschen einzuladen und das Meeting zu hosten.

– Auf Spotify gibt es zwei aufregende Neuerungen: Das Hörbuch zu „Was ich ihr nicht schreibe“ ist jetzt nicht mehr mit gefühlt 832 Tracks zu je 4 Sekunden online, sondern sinnvoll. Ein Text = ein Track, entsprechend benannt. Du kannst jetzt also gezielt nach Texten schauen und sie anhören. Außerdem gibt es „The Bookstore Is Closed“, die EP meiner Band The Baby and the Dog, jetzt auch auf Spotify (und auf Apple Music und Amazon Musik und TikTok und wo du willst). Wenn dir die Lieder gefallen, baue sie gerne in möglichst viele Playlists ein, damit der Algorithmus sagt: Oh my, I should rather spread this shit.

– Ich habe die viele Zeit unter anderem dafür genutzt, alle Gedichte, die ich jemals für die Gäste meiner und Pierre Jarawans Show „Stadt, Land, Fluss“ geschrieben habe, auf meine Homepage zu stellen. Du findest dort 48 Gedichte für Kolleg:innen sowie den Eröffnungs- und den Schlusstext der Show. Und viele Mehrfachreime. Enjoy!

Kunst, die mir zuletzt gefallen hat:

– Die Songwriterin Dota hat ein Album aufgenommen, in dem sie Gedichte von Mascha Kaléko vertont, teilweise mit tollen Partner:innen (z.B. Hannes Wader, Alin Coen, Konstantin Wecker). Meine Mitbewohnerin hat es mir eines morgens gezeigt, und seitdem kann ich nicht mehr aufhören, zu lauschen. „Für einen“ ist eines meiner Lieblingslieder des Frühlings geworden. Dota – Kaléko. Lausche auch du!

– Bereits erwähnter Freund und Kollege Pierre Jarawan hat einen neuen Roman geschrieben und sich Anfang März als Veröffentlichungstermin ausgesucht. Rückblickend mittelsinnvoll. Der Roman jedoch: hat mir sehr gut gefallen, um ehrlich zu sein sogar besser als sein mittlerweile vielfach ausgezeichnetes und übersetzter Vorgänger „Am Ende bleiben die Zedern“. Ich habe für meine Buchhandlung eine Rezension geschrieben, die ein bisschen unsinnig geraten ist, aber sehr bewundernd gemeint. Pierre Jarawan – Ein Lied für die Vermissten. Lies auch du! 🙂

– Bereits erwähnte Mitbewohnerin ist Caroline Antonetty, die seit knapp dreißig Jahren eine Lederwerkstatt in der Klenzestraße hat. Nun lebe ich größtenteils vegan, aber täte ich das nicht, und das trifft auf dich vielleicht zu, dann würde ich mich exklusiv bei ihr einkleiden und accessoiren. Sie hat einen sehr tollen und eigenen Stil, und alles ist handgearbeitet. Wegen Corona musste auch sie einige Zeit zusperren und hat deshalb ihr Angebot komplett online gestellt. Ich nenne sie stellvertretend für alle Einzelhändler:innen, alle kleinen Geschäfte, Cafés und Restaurants, die unsere Städte lebenswert machen. Lokal kaufen hält die Stadt lebendig. Antonetty Lederwerkstatt. Schaue auch du!

Special Treat des Monats:
(nur verfügbar für Menschen, die den Newsletter abonniert haben)

Ich wünsche dir alles Liebe für die aktuelle Zeit. Sei nachsichtig mit dir, wenn dir das möglich ist. Und vielleicht sehen wir uns ja bald schon online – ich habe Zeit und würde mich freuen! Ansonsten lesen wir uns im nächsten Newsletter, wenn ich vielleicht schon Masseur bin oder Astronaut oder Feuerwehrmann. Und du?

Einen wunderschönen Tag dir!
Dein Alex